Karl Marx als Philosoph der menschlichen Emanzipation
Rehabilitation eines verkannten Denkers1
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Universität Gesamthochschule Kassel - FG Philosophie
Einleitung
I. Die Zielperspektive der
menschlichen Emanzipation
II. Die Geschichtsphilosophische
Grundlegung
III. Die Kritik der politischen
Ökonomie
IV. Die Revolutionstheorie
V. Ausblick in die Gegenwart
Einleitung
Die
Marxsche Philosophie ist von ihrem ersten, aus der
kritischen Auseinandersetzung mit Hegel erwachsenen Anfängen an bis hin zum
unvollendet gebliebenen Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie dem Ziel
der menschlichen Emanzipation verpflichtet.
Ich
möchte daher meinen Thesen ein Zitat vom jungen Marx von 1843 als Motto
voranstellen, da es gleichsam das treibende Motiv seines ganzen philosophischen
und politischen Wirkens ausspricht. "Alle Emanzipation ist Zurückführung
der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst ...
Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich
zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner
individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen
geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als gesellschaftliche
Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft
nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist
die menschliche Emanzipation vollbracht" (MEW 1, 370).
I. Die
Zielperspektive der menschlichen Emanzipation
Marx
tritt entschieden das Erbe der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und der sie
leitenden bürgerlich-emanzipativen Philosophie an, die sich seit dem Humanismus
über die Aufklärung bis zum Idealismus schrittweise als Philosophie der
menschlichen Freiheit und geschichtlichen Verantwortung entfaltete, eben
dadurch, dass sie damit begann, "die menschliche Welt, die Verhältnisse,
auf den Menschen selbst" zurückzuführen, den Individuen ihre
gesellschaftliche Praxis bewusst und dadurch verfügbar zu machen. Aber Marx
tritt zugleich kritisch den Ergebnissen entgegen, bei denen die bürgerliche
Emanzipationsbewegung nach Eroberung der politischen Macht Halt gemacht hat und
die die bürgerliche Gesellschaftsphilosophie in ihrer reifsten Gestalt, der
Staats- und Geschichtsphilosophie Hegels, als prinzipielles Ende der
gesellschaftlichen Entwicklung legitimierte.
In Hegels
Philosophie offenbart sich die Begrenzung der bürgerlichen
Emanzipationsbewegung, die allein in der politischen Befreiung bereits ihre
Erfüllung findet und die hierin zugleich ihre Unfähigkeit dokumentiert, die neu
aufkommenden sozialen Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse zu
bewältigen; an ihr zeigt sich, wie die bürgerliche Philosophie nach Erfüllung
der politischen Forderungen des Bürgertums ihre kritisch-emanzipativen Ideale
preisgibt und in Affirmation und Apologetik des Erreichten umschlägt, auch wenn
dies offensichtlich auf Kosten einer neu aufkommenden, sozial benachteiligten
Klasse geschieht, für die die Emanzipationsversprechen von einst keine Geltung
mehr haben sollen.
Hegel
hat wie kein anderer bürgerlicher Philosoph vor oder nach ihm die innere
Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft erkannt und ausgesprochen. Er hat nicht nur - wie er sagt -
"die Abhängigkeit und Not der an [die] Arbeit gebundenen Klassen"
(Hegel 7, 389) herausgearbeitet, sondern auch ausdrücklich hervorgehoben,
"dass bei dem Übermaß des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht
reich genug ist ... dem Übermaß der Armut und Erzeugung des Pöbels zu
steuern" (Hegel 7, 390), da beides unaufhebbar durch die industrielle Produktionsweise
ständig erneuert und in steigendem Ausmaß reproduziert wird.
Obwohl
nun Hegel diese grundsätzliche Widersprüchlichkeit in der ökonomischen Basis
erkennt und ausdrücklich zugibt, dass auch der bürgerliche Staat diese
Widersprüchlichkeit nur abmildern, niemals aber aufheben kann, verkündet er
doch, dass der politische Staat die höchste Erfüllung menschlicher Sittlichkeit
sei; denn hier gelange der individuelle und der allgemeine Wille zur gelebten
Einheit; insofern die politische Freiheit der Individuen konstitutiv ist für
die Verfassung der modernen Staaten, wie andererseits das Gemeinwohl in der
vaterländischen Gesinnung tragend wird für das politische Denken und Handeln
der Individuen.
Marx
macht in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie deutlich,
dass Hegel hier nicht etwa nur eine Grenze seines eigenen Denkens, sondern die
prinzipielle Begrenztheit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung selbst
ausspricht. Diese war in ihren geistigen und politischen Kämpfen immer nur auf
den Fortschritt im Bewusstsein der politischen, staatlich-verfassten Freiheit
ausgerichtet, sie erkennt aber nicht, dass sie ihren Progress einer
ökonomischen Entwicklung verdankt, der ökonomischen Selbständigwerdung der
Bürger durch die kapitalistische Produktionsweise. So kann sie aber auch nicht
sehen, dass eben derselbe Prozess, der die bürgerlichen Reichtümer und
Freiheiten hervorbringt, zugleich eine neue Klasse sozial unterdrückter und
ausgebeuteter, an die Arbeit gefesselter Menschen erzeugt, deren grundsätzliche
Benachteiligung durch die kapitalistische Produktionsweise gerade nicht durch
die politischen, die bürgerlichen Freiheiten behoben werden kann.
Die
emanzipative bürgerliche Philosophie, Politik und Pädagogik, war mit dem
Versprechen der Befreiung und Selbstverwirklichung aller Individuen in einer
von allen getragenen und verantworteten demokratischen Gesellschaft angetreten;
und schrittweise hat die bürgerliche Emanzipationsbewegung auch die politische
Freiheit der Individuen und die demokratische Verfasstheit der Staaten erkämpft
und verwirklicht. Da die bürgerliche Philosophie - von Hegel bis heute - jedoch
nicht auf dem Zusammenhang von politischer Emanzipation und ökonomischer
Entwicklung reflektiert, erscheint ihr einerseits die kapitalistische oder
industrielle Produktionsweise in ihrer der Emanzipation aller Menschen
entgegenstehenden Widersprüchlichkeit als eine unüberwindbare Gegebenheit, die
eben, so wie sie ist, hingenommen werden muss, und andererseits hält sie die
erreichte politische Freiheit in den modernen bürgerlichen Staaten bereits als
Erfüllung aller möglichen Befreiung - gerade hierin liegt ihr Umschlagen von
einer emanzipativen in eine apologetische Theorie begründet.
Marx
dagegen hält an der ursprünglich grundsätzlicher gemeinten Perspektive
menschlicher Emanzipation fest; auch ihm geht es um die Verwirklichung von
Freiheit und Sittlichkeit in der "Einheit von individuellem und
allgemeinem Willen", doch sieht er diese keineswegs im modernen Staat
bereits verwirklicht, sondern diese Einheit kann erst dort erreicht werden, wo
die sozialen Widersprüche und die Klassengegensätze, die die kapitalistische
Produktionsweise erzeugt, aufgehoben werden. Diese Verwirklichung von Freiheit
und Sittlichkeit ist also noch ausständig, sie muss erst durch die
revolutionäre Bewegung der sozial Unterdrückten und Benachteiligten in einem
Umsturz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erkämpft werden. Ziel
dieser revolutionären Umwälzung ist die über die Begrenzungen der bürgerlich-politischen
Emanzipation hinausgetriebene menschliche Emanzipation, die Errichtung
einer solidarischen Gesellschaft freier Individuen, eine menschliche und
menschheitliche Weltgesellschaft. Um die realen Bedingungen der Möglichkeit
einer solchen menschlichen Emanzipation konkret aufzuweisen, konzentriert Marx
seine theoretische Arbeit seit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten
von 1844 bis zum Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie auf die
kritische Analyse der grundsätzlich in der kapitalistischen Produktionsweise
selbst steckenden Widersprüchlichkeit, um an den Bedingungen ihrer Entstehung
und der Logik ihrer Entwicklungsgesetze die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer
Aufhebung herauszuarbeiten. Er zeigt dabei auf, dass die politische Ökonomie der
bürgerlichen Gesellschaft keineswegs eine anthropologische festsitzende
Gegebenheit ist, sondern vielmehr durch gesellschaftliche Praxis - wenn auch
bewusstlos - hervorgebracht ist und daher auch grundsätzlich durch eine
bewusste und solidarische Praxis der Individuen revolutioniert werden kann.
II. Die
Geschichtsphilosophische Grundlegung
Um den
Selbstwiderspruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft analytisch
fassen zu können, muss Marx tiefer und grundlegender ansetzen als die
bürgerliche Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie vor ihm, die, da sie nur
auf die politisch verfasste Freiheit reflektiert, deren Zusammenhang mit der
ökonomischen Basis nicht zu erkennen vermag. Der für die Marxsche Theorie seit
1844 entscheidende Ausgangspunkt ist der der gesellschaftlichen Produktion,
Arbeit und Praxis. Von Anfang an ist die grundsätzliche Einheit dieser drei
grundlegenden Bestimmungen der menschlichen Lebenserhaltung und -gestaltung zu
betonen, denn wo die Bestimmungen von vornherein auseinandergerissen werden, so
dass beispielsweise die arbeitende Auseinandersetzung des Menschen mit der
Natur und die kommunikative Praxis der menschlichen Beziehungen als
anthropologisch bedingte, getrennte Entwicklungslinien aufgefasst werden, da
fällt man wieder auf das Niveau bürgerlicher Gesellschaftstheorien zurück und
vermag nicht die grundlegende Widersprüchlichkeit unserer gegenwärtigen
gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erkennen und deshalb auch nicht die einzige
Möglichkeit ihrer Überwindung aufzufinden.
In seiner
grundlegendsten Bedeutung besagt der Begriff der gesellschaftlichen Produktion,
Arbeit und Praxis, dass die Menschen selber die Produzenten ihres Verhältnisses
zur Natur, ihrer sozialen Beziehung und ihrer Denkformen sind.
Selbstverständlich gibt es naturgeschichtliche Voraussetzungen und naturhafte
Bedingungen des Menschseins, die aber selbst einer fortwährenden
geschichtlichen Überformung durch die gesellschaftliche Produktion unterliegen.
So steht die gesellschaftliche Produktion zunächst im Zentrum der Dialektik von
Mensch und Natur, insofern einerseits der Mensch als Gattung unabdingbar und
unaufhebbar einbezogen ist in die Natur und nur in ständiger Auseinandersetzung
mit ihr seine materielle Lebenserhaltung erarbeiten und sichern kann, es andererseits
aber die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens selber ist,
durch die das Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmt hervorgebracht und
geschichtlich verändert wird.
Weiterhin
und vor allem ist die gesellschaftliche Produktion Basis und Motor dessen, was
wir Geschichte nennen, denn es sind die Menschen selber, die, indem sie
gesellschaftlich ihr Leben erhalten, zugleich ihr gesellschaftliches Leben
gestalten in all seinen sozialen und kulturellen, praktischen und theoretischen
Formen; so führt Marx in den Grundrissen aus: "In dem Akt der
Reproduktion selbst verändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen, z.B.
aus dem Dorf wird Stadt, aus der Wildnis gelichteter Acker etc., sondern die
Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraussetzen, sich
selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, neue Kräfte, neue
Vorstellungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue
Sprache" (MEW 42, 402).
Die
immer schon "in Gesellschaft produzierenden Individuen" - denn
"die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft ...
ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und
zusammen sprechende Individuen" (MEW 42, 19 f.) - bringen also selber in
ihrer gesellschaftlichen Arbeit und Praxis die Verhältnisse in ihrer
kulturellen Bestimmtheit hervor, in denen sie jeweils leben.
Entscheidend
ist, dass Marx hier von Anbeginn an über die Aporie der vorhergehenden
politischen Philosophie zwischen Rousseaus Gesellschaftsvertrag der
vereinzelten Individuen, die die Gesellschaft erst konstituieren sollen, und
Hegels Vernunft des absoluten Willens, die das Gesellschaftlich-Allgemeine
listig durch das Handeln der Individuen durchsetzt, hinaus ist, insofern in der
gesellschaftlichen Produktion der Individuen überhaupt erst Gesellschaft und
Individuen konstituiert werden; oder wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten formuliert: "wie die Gesellschaft selbst den Menschen als
Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert" (MEW 40, 537). Somit
erweist sich die gesellschaftliche Produktion der Individuen als die treibende
Substanz aller Geschichte.
Aber -
und hiermit kommen wir auf das entscheidende Problem der Marxschen
Geschichtsdialektik - diese Produktion und Reproduktion ihrer
Lebensverhältnisse durch die gesellschaftliche Arbeit und Praxis der Individuen
vollzieht sich zunächst für diese völlig bewusstlos in ihren individuell
motivierten Handlungen, so dass für die einzelnen Individuen die jeweiligen,
gesellschaftlich-bewusstlos produzierten Formen ihrer Arbeit und Praxis nicht
als selber hervorgebrachte, sondern als - gottgewollte, naturbedingte,
sachnotwendige - Gegebenheiten erscheinen, die das Handeln der Individuen
bestimmen. So wirken die gesellschaftlich bewusstlos hervorgebrachten
Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sowie deren ideologische Legitimation
als fremde Mächte bestimmend auf die handelnden Individuen zurück, die
eigentlich deren Produzenten sind: Dies ist es, was Marx mit dem Begriff Entfremdung
bezeichnet und in den Grundrissen folgendermaßen umschreibt:
"Sosehr
uns das Ganze dieser Bewegung als gesellschaftlicher Prozess erscheint, und
sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewussten Willen und
besonderen Zwecken der Individuen ausgehen, sosehr erscheint die Totalität des
Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus
dem Aufeinanderwirken der bewussten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem
Bewusstsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eigens
Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde
gesellschaftliche Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozess
und Gewalt ... Die gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen aufeinander
als verselbständigte Macht über den Individuen, werden sie nun vorgestellt als
Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat
dessen, dass der Ausgangspunkt nicht das Freie gesellschaftliche Individuum
ist" (MEW 42, 127).
Eine
solche Entfremdung und Verkehrung liegt allen bisherigen
Gesellschaftsformationen zugrunde; von den archaischen Kulturen über die
agrarischen Staaten bis hin zu unseren heutigen industriellen Gesellschaften.
In all diesen Formationen naturwüchsiger Vergesellschaftung können sich
"die in Gesellschaft produzierenden Individuen" gerade nicht als die
Produzenten ihrer Lebensverhältnisse verwirklichen, sondern sie werden
umgekehrt von den gesellschaftlich-bewusstlos hervorgebrachten Verhältnissen
fremdbestimmt.
Nun
liegt aber gerade in der Aufdeckung dieser Entfremdung und Verkehrung - wie
Marx unterstreicht - bereits der Aufweis der prinzipiellen Möglichkeit ihrer
Aufhebung und Überwindung begründet. Denn da die Entfremdung selbst Produkt der
- wenn auch bewusstlosen - gesellschaftlichen Praxis ist, kann sie
grundsätzlich auch durch gesellschaftliche Praxis revolutionär aufgehoben
werden, nämlich durch die vereinigte Macht der bewusstgewordenen Individuen als
entschiedenen Trägern der gesellschaftlichen Lebensgestaltung. So formuliert
Marx, die Logik seiner Geschichtsdialektik aufdeckend, in den Ökonomisch-philosphischen
Manuskripten: "Wie, fragen wir nun, kömmt der Mensch dazu,
seine Arbeit zu entäußern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im
Wesen der menschlichen Entwicklung begründet? Wir haben schon viel für die
Lösung der Aufgabe gewonnen, indem wir die Frage nach dem Ursprung des Privateigentums
[der kapitalistischen Produktionsverhältnisse] in die Frage nach dem
Verhältnis der entäußerten Arbeit zum Entwicklungsgang der Menschheit verwandelt
haben. Denn, wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man es
mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben. Wenn man von der Arbeit
spricht, so hat man es unmittelbar mit dem Menschen zu tun. Diese neue Stellung
der Frage ist inklusive schon ihre Lösung" (MEW 40, 521 f).
Fassen
wir also nochmals zusammen: Die gesellschaftliche Praxis der Individuen liegt
der Substanz nach aller Geschichte zugrunde, aber solange diese Praxis
naturwüchsig verläuft, d.h. die gesellschaftlichen Individuen sich der
Gesellschaftlichkeit und der gesellschaftlichen Verantwortung ihres Tuns nicht bewusst sind, wird das, was sie gesellschaftlich
hervorbrachten und hervorbringen, von ihnen als etwas erfahren, was naturhaft
gegeben bzw. notwendig so geworden ist, und was sie daher zwangsläufig von
außen bestimmt und beherrscht. Erst dort, wo die in Gesellschaft produzierenden
Individuen sich ihrer Entfremdung bewusst werden, können sie in vereinigter
Gewalt die sie entfremdeten Verhältnisse umwälzen und beginnen, die Produktion
ihrer Lebensverhältnisse bewusst und gemeinsam selber in ihre Hände zu nehmen.
Der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis, die selbst in der Potenz
dieser Bewusstwerdung wurzelt, kommt hierbei die Aufgabe zu, diese
Bewusstwerdung der Individuen als Träger der gesellschaftlichen Praxis
anzuleiten.
Die
Stringenz dieser Geschichtsdialektik beruht darauf, dass Marx erkennt, dass die
gesellschaftliche Produktion, Arbeit und Praxis sich (unbewusst) selber
entfremdet; gerade daher aber ist sie - und nur sie - in der Lage, als bewusste
gesellschaftliche Produktion, d.h. über die bewusstgewordenen und solidarisch
handelnden Individuen, die (selbstverschuldete) Entfremdung aufzuheben. Erst in
dieser Marxschen Konzeption wird die Dialektik eine geschichtliche und erfüllt
das, was Hegel nur versichert hatte: die Subjektwerdung der Substanz, die aller
Geschichte zugrunde liegt, wobei die Subjektwerdung nicht in einem nur
theoretischen Begreifen liegt, sondern eben in einer bewusst geplanten
gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis der vereinigten Subjekte; erst
durch sie wird die "menschliche Emanzipation" vollbracht.
III.
Die Kritik der politischen Ökonomie
Auch
das gesamte Spätwerk von Marx, das nie abgeschlossene Mammutunternehmen einer Kritik
der politischen Ökonomie, ruht auf diesen geschichtsdialektischen
Grundgedanken.
Dies
lässt sich aus den Texten der verschiedenen Entwürfe zu einer Kritik der
politischen Ökonomie und so auch aus deren Teilstück Das Kapital belegen.
Aber meist wird überlesen, dass Marx hier in kritischer Absicht die Logik der
die bürgerliche Gesellschaft beherrschenden kapitalistischen Produktionsweise
als eine Logik der Entfremdung aufzudecken versucht. Die Kritik der
politischen Ökonomie ist eine negative Theorie; d.h. die
Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise in der Logik ihrer eigenen
Bewegungsgesetze erfolgt mit dem Ziel, an ihr selbst den Beweis zu erbringen,
dass das Kapital an seiner eigenen konsequent logischen Entfaltung notwendig
zugrundegehen muss und damit die Menschen in ihrem gesellschaftlichen
Zusammenleben mit in den Abgrund zieht.
Im
Gesamtprojekt der Kritik der politischen Ökonomie geht es Marx nicht
mehr wie in den Frühschriften um den dialektisch begründeten Aufweis der
Bedingungen der Möglichkeit der Entfremdung, der zugleich die Bedingungen der
Möglichkeit ihrer Aufhebung sichtbar macht. Er setzt jedoch diesen Aufweis
stillschweigend voraus, wenn er nun immanent der Logik des Kapitals folgend,
deren grundsätzliche Widersprüchlichkeit herausarbeitet. Vom ersten Satz des Kapital
- "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische
Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung'"
(MEW 23, 49) - bis zur vorgezogenen Endperspektive der Kritik der
politischen Ökonomie gegen Schluss des ersten Bandes des Kapital -
"Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines
Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation" (MEW
23, 791) - bewegt sich die gesamte Kapitalanalyse ausschließlich in der
immanenten Rekonstruktion der Logik des Kapitals, die eine Logik der
Entfremdung und Verkehrung ist.
Der
grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise liegt darin,
dass sich hier die gesellschaftlich handelnden Individuen von der Logik des
Kapitals bestimmen und beherrschen lassen; das Kapital ist aber nichts anderes
als aufgehäufte vergegenständlichte Arbeit, die für sich tot ist, und die ihre
ganze Kraft und Beweglichkeit allein aus der immer wieder erneuten
Vereinnahmung und Manipulation lebendiger Arbeit bezieht. Dem Selbstverständnis
ihrer Bewegungs- und Entwicklungsgesetze nach verhält sich das Kapital jedoch
so, als wäre es allein aus sich selbst heraus begründet und selber produktiv,
und es betreibt gerade dadurch die fortgesetzte und fortschreitende Negation
der lebendigen Arbeit - und damit der lebendigen Individuen, die die
eigentliche Daseinsgrundlage allen gesellschaftlichen Lebens sind.
Wird
die Kritik der politischen Ökonomie nicht von ihrem Anliegen her
verstanden, den negativen Erweis zu erbringen, dass das Kapital in der
Entfaltung seiner Logik niemals die Erfüllung menschlicher Praxis zu
ermöglichen vermag, so wird nicht nur ihr kritisch negativer Theoriecharakter
von vornherein missdeutet, sondern auch übersehen, dass die Kritik der
politischen Ökonomie gar nicht auf eine ökonomische Wissenschaft abzielt,
sondern über sich hinaus auf eine "revolutionäre Praxis" verweist.
Wer also das Kapital als ontologische Daseinsanalytik liest oder als
Grundlegung einer neuen Ökonomie, der missversteht ihren theoretischen Ansatz
genauso wie jene linken Kritiker, die beispielsweise im Kapital eine
fundamentale Phänomenologie der menschlichen Arbeit sowie der Fülle des
menschlichen Lebens vermissen und Marx daher einen Ökonomismus vorwerfen; sie
zeigen nur, dass sie den Sinn der negativ demonstrierenden Kapitalanalyse von
Marx nicht erfaßt haben. Nicht Marx ist Ökonomist,
sondern er deckt kritisch auf, dass unsere kapitalistische Welt von einem Ökonomismus
beherrscht und gesteuert wird, der alle gesellschaftlichen Beziehungen
destruiert.
Gerade
weil die Kritik der politischen Ökonomie nur negative Theorie zu sein
beansprucht, kann in ihr auch von der revolutionären Praxis nicht positiv die
Rede sein. Zwar muss das Kapital an seinen eigenen Widersprüchen zugrundegehen
- das lässt sich an der Logik des Kapitals in ihrer sich steigernden
Widersprüchlichkeit demonstrieren -, aber dass diese selbstzerstörerische
Tendenz nicht in Chaos und Barbarei endet, sondern in einer die kapitalistische
Produktionsweise aufhebenden solidarischen Gesellschaft mündet, ist nicht aus
den Widersprüchen des Kapitals ableitbar, sondern wird allein Werk der sich der
entfremdeten Logik des Kapitals bewusstgewordenen und solidarisch gegen sie
erhebenden Individuen sein; von dieser revolutionären Praxis kann aber die
negativ demonstrierende Kapitalanalyse nicht positiv handeln.
So
zeigt sich - wenn auch nur indirekt -, dass die bereits in den Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten aufgewiesene Geschichtsdialektik auch die theoretische
Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie bildet, obwohl sie im Kapital
nicht direkt thematisiert werden kann, da es hier allein um die Strukturgesetze
der entfremdeten Formbestimmtheit der gesellschaftlichen Produktion geht. Der
Substanz nach liegt jedoch auch der durch das Kapital beherrschten Gesellschaft
die gesellschaftliche Produktion der lebendigen Individuen zugrunde, und dies
macht letztlich den für das Kapital unaufhebbaren Widerspruch aus: denn je mehr
sich das Kapital zum "automatischen Subjekt" der gesellschaftlichen
Entwicklung aufschwingt, um so mehr entzieht es der eigentlichen
gesellschaftlichen Arbeit und Praxis der handelnden Individuen die
Bewegungskraft und Lebensgrundlage, auf die es gleichwohl selber angewiesen
ist. Das Kapital in seiner Logik der Entfremdung muss - so oder so - an seinen
eigenen Widersprüchen zugrundegehen. Das "so oder so" hängt jedoch
nicht vom Kapital, sondern von den sich ihrer gesellschaftlichen Praxis
bewusstwerdenden Individuen und ihrer solidarischen Befreiungsbewegung ab, denn
nur durch sie kann die der Substanz nach aller Geschichte zugrundeliegende
gesellschaftliche Praxis zum Subjekt werden, d.h. nur so können die
gesellschaftlich handelnden Individuen zu Subjekten ihrer eigenen
gesellschaftlichen Praxis und Geschichte werden. Insofern verweist die Kritik
der politischen Ökonomie, richtig aus der philosophisch begründeten
Dialektik geschichtlicher Praxis verstanden, auf den dritten Pfeiler der Marxschen
Lehre: die Revolutionstheorie.
IV. Die
Revolutionstheorie
In
dieser Eingliederung des gigantischen, nie abgeschlossenen Projekts der Kritik
der politischen Ökonomie in dem Zusammenhang seiner Geschichtsdialektik
wird deutlich, dass die Kritik der politischen Ökonomie, die Marx seit
1857 bis zu seinem Tode mit immer ausschließlicherer Verbissenheit betrieben
hat, selbst wenn er sie zu Ende gebracht hätte, nur die Konkretion eines - wenn
auch notwendigen - Teilausschnitts seiner geschichtsdialektischen Theorie
repräsentiert. Die kritische Analyse der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit
der bestehenden Gesellschaft und ihrer Entwicklungstendenzen ist ein
unabdingbares Teilmoment der Konkretion der Marxschen Theorie, das nicht nur
der seitherigen gesellschaftlichen Entwicklung gemäß als Kritik der
politischen Ökonomie, inklusive einer Kritik des Staates und der
imperialistischen Weltwirtschaft fortgeschrieben, sondern auch nach innen und
außen erweitert werden muss zu einer Kritik des gesellschaftlichen
Alltagslebens und einer Kritik der politischen Ökologie, die auch die
gesellschaftliche Praxis in Familie und Erziehung, aber auch von Wissenschaft
und Technik mit zu umfassen hat - um hier nur Beispiele zu nennen.
Aber
selbst in einer solchen umfassenden Erweiterung ist die Kritik der
kapitalistischen Produktionsweise in ihrer das gesamte gesellschaftliche Leben
durchherrschenden Logik der Widersprüchlichkeiten doch nur eine Teilaufgabe der
Fortführung der Marxschen Theorie. Ihr zur Seite muss als zweite
Konkretionsarbeit die Weiterentwicklung der Revolutionstheorie treten.
Bekanntlich
hat Marx diesen zweiten Strang seiner Geschichtsdialektik, der, wie gezeigt,
nicht in der Kritik der politischen Ökonomie behandelt werden kann,
niemals über einige grundlegende Entwürfe hinaus entwickelt; allerdings hat er
sie auch niemals aufgegeben, wie manche behaupten, sondern in seinen
politisch-historischen Schriften und politisch-praktischen Stellungnahmen bis
zu seinem Tode weiterverfolgt. Die Konkretionslücke, die Marx hier hinterließ,
haben später Lenin, Trotzki, Luxemburg, Gramsci, Lukács, Reich, Marcuse,
Lefebvre mit der Herausarbeitung der Frage nach der revolutionären Klasse, der
Bildung des Klassenbewusstseins, der Organisation der revolutionären Bewegung usw.
zu schließen versucht.
Doch
versuchen wir hier, ohne diese Fortentwicklungen mit einzubeziehen, die
Konturen der Marxschen Revolutionstheorie in ihrer allgemeinen Konstitution
aufzuzeigen, denn nur über sie kann das Projekt der menschlichen Emanzipation
erfüllt werden.
Seit
1844 besteht für Marx kein Zweifel daran, dass das Proletariat die
revolutionäre Klasse ist, die die menschliche Emanzipation erkämpfen wird,
angeleitet durch die Kommunisten, d.h. durch jenen Bund von Proletariern und
Intellektuellen, die sich der unabdingbaren Notwendigkeit der Revolutionierung
der kapitalistischen Produktionsweise bewusst geworden sind und sich zum Aufbau
einer revolutionären Bewegung solidarisch vereinigt haben.
Dass
die menschliche Emanzipation nur über eine Revolutionierung der
entfremdeten Gesellschaftsverhältnisse durch die von der Entfremdung
Betroffenen, durch die eigentlichen Träger der gesellschaftlichen Produktion
selbst vollzogen werden kann, ist bereits durch die philosophische Grundlegung
der Geschichtsdialektik begründet und kann auch nur philosophisch begründet
werden.
Dass in
der kapitalistischen Gesellschaft nur das Proletariat die revolutionäre Klasse
sein kann, leitet Marx negativ aus seiner Kritik der politischen Ökonomie
ab: das Proletariat, die Klasse der Lohnarbeiter, ist der eigentliche Träger
der kapitalistischen Produktion, das Kapital lebt nur auf der Grundlage der
Ausbeutung ihrer lebendigen Arbeit; je mehr sich das Kapital ausbreitet und das
gesamte gesellschaftliche Leben ergreift, um so mehr Menschen werden zu vom
Kapital abhängigen Lohnarbeitern; die Selbstwidersprüche der kapitalistischen
Entwicklung, die sich in wiederkehrenden und steigernden Krisen niederschlagen,
treffen zunächst ganz existentiell die Lohnarbeiter; daher sind es die
Lohnarbeiter - da sie die in Krisen sich entladenden Widersprüche der
kapitalistischen Produktionsweise unmittelbar am eigenen Leibe erfahren - die
als erste an einer Aufhebung der bestehenden Verhältnisse existentiell
interessiert sein müssen; zugleich sind sie es, die nicht nur die Mehrheit des
Volkes bilden, sondern auch die gesamte kapitalistische Produktion reell in
ihren Händen haben; vereinigt haben sie faktisch jederzeit die Macht den
gesamten kapitalistischen Produktionsprozeß stillzustellen; natürlich bedarf es einer Anleitung der
Mehrheit des Proletariats durch einen Bund von Kommunisten, von theoretisch
gebildeten Proletariern und proletarisch gesinnten Intellektuellen.
Weiter
hat Marx seine Revolutionstheorie nicht ausgeführt, denn er war der
Überzeugung, dass die zunehmenden und sich steigernden Krisen des Kapitalismus
und die theoretische Stringenz seiner Kritik der politischen Ökonomie
das rasch anwachsende Proletariat von alleine zur revolutionären Bewegung der
Kommunisten drängen und sie von der Notwendigkeit des revolutionären Wegs zur
menschlichen Emanzipation überzeugen werden. So schrieben Marx und Engels in
der Deutschen Ideologie: "In der Entwicklung der Produktivkräfte
tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel
hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil
anrichten, welche keine Produktivkräfte mehr sind, sondern Destruktivkräfte
(Maschinerie und Geld) - und was damit zusammenhängt, dass eine Klasse
hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne
ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in dem
entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse,
die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das
Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das
kommunistische Bewusstsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen
Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann"
(MEW 3, 69).
Die
theoretische Schwäche der Marxschen Revolutionstheorie liegt darin, dass Marx
allzu selbstverständlich davon ausgeht, dass die sich zuspitzenden Krisen der
kapitalistischen Produktionsweise und das dadurch hervorgerufene Elend unter
der arbeitenden Bevölkerung diese von sich aus zur revolutionären Bewegung
treiben werde; wobei Marx meint, dass die eigentliche treibende Kraft die
ausbrechende Revolution selbst darstellen werde: da "sowohl zur
massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins
wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen
nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich
gehen kann" (MEW 3, 70).
Da Marx
von diesen Grundannahmen ausgeht, versäumt er es, sich überhaupt mit Fragen der
politischen und pädagogischen Arbeit zur Bildung eines revolutionären
Klassenbewusstseins intensiver zu beschäftigen. Hierin liegt nicht nur eine
Überschätzung der politischen Bewusstheit des Proletariats, als auch eine
Unterschätzung der politischen und pädagogischen Integrationsmöglichkeiten der
herrschenden Mächte. Angesichts der spontanen Entstehung der Arbeiterbewegung
und ihrer raschen Erstarkung im 19. Jahrhundert ist diese theoretische
Unklarheit in der Marxschen Revolutionstheorie vielleicht verstehbar, trotzdem
liegen hierin die Wurzeln für die späteren dogmatischen und revisionistischen
Umformungen des Marxismus, denn gerade dadurch konnte der Kern der Marxschen
Dialektik, dass nur die bewusst und solidarisch handelnden Produzenten die
bestehenden Produktionsverhältnisse umstürzen und die menschliche Emanzipation
vollbringen können, in verschiedene mechanistische und evolutionistische
Geschichtsprozesstheorien verkehrt werden.
Dadurch,
dass die verschiedenen Marxismen die "in Gesellschaft produzierenden
Individuen" als die eigentlichen Subjekte der revolutionären Praxis aus
den Augen verlieren, entschwindet ihnen auch das Ziel der menschlichen
Emanzipation, die solidarische Gesellschaft, wie sie Marx noch 1875 in den Randglossen
zum Programm der deutschen Arbeiterpartei umschrieben hat: "In einer
höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende
Unterordnung der Individuen unter der Teilung der Arbeit, damit auch der
Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die
Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis
geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre
Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums
voller fließen, erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz
überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach
seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" (MEW 19, 2).
V. Ausblick
in die Gegenwart
Zusammenfassend
und im Hinblick auf unsere heutigen Probleme sei abschließend in drei Punkten
das Grundlegende und Bleibende der Marxschen Philosophie der menschlichen
Emanzipation in angedeuteter Abhebung von Hegels Geschichtsphilosophie
umrissen.
1.
Gegen Hegels Verständnis der Weltgeschichte als eines "Fortschritts im
Bewusstsein der Freiheit", der sich als "List der Vernunft"
hinter dem Rücken der Individuen, aber durch deren subjektive Interessen
hindurch, allein aus sich heraus durchsetzt, betont der junge Marx: "Die
Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form ... Aus
diesem Konflikt mit sich selbst lässt daher überall die soziale Wahrheit
entwickeln" (MEW 1, 345). Die der menschlichen Praxis selbst innewohnende
Vernunft liegt aller Geschichte zugrunde, darin besteht völlige Übereinstimmung
zwischen Marx und Hegel, aber, so fährt Marx gleich fort, sich selbst
überlassen, treibt sie keineswegs naturwüchsig den Fortschritt im Bewusstsein
der Freiheit voran, sondern erzeugt vielmehr, gerade weil sie nur
naturwüchsig-bewusstlos wirkt, mannigfaltige Formen der Entfremdung, erzeugt
sowohl Formen der Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen als
auch der Zerstörung der Natur. Solange die Individuen in ihrer Praxis gerade nur
ihren eigenen Interessen folgen, so dass sich die
gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung allein hinter ihrem Rücken als für
sie fremde Macht und Gesetzlichkeit durchsetzt, solange wird sie keinen Schritt
auf Freiheit und Sittlichkeit hin vorantun, sondern im Gegenteil, die
bewusstlos erzeugten Verhältnisse, die ökonomischen, technischen,
staatsbürokratischen, kybernetischen Sachzwänge, werden mehr und mehr die
sittlichen Entscheidungshorizonte der Subjekte einschränken und das Verhalten
der Subjekte fremdsteuern. Gerade der heutige weltweit expandierende
Industrialisierungsprozess zeigt uns, wie sehr wir eingebunden sind in einen
sicherlich nicht nach sittlichen Maßstäben vorwärtstreibenden Mechanismus,
dessen teilweise verheerenden Folgen für die Hungernden der Dritten Welt, für
die Rohstoffreserven der künftigen Generationen, für den Erhalt der Kreisläufe
der Biosphäre wir zwar sehr wohl durchschauen, aber selbst mit
völkerrechtlichen Gegenmaßnahmen bisher nicht einmal abzubremsen vermochten.
Und trotzdem
besteht die grundsätzlichere Hoffnung, dass wir diese unheilvollen
Entwicklungstendenzen anhalten und umwenden können; denn da alle diese
ökonomischen, technischen, staatlichen, wissenschaftlichen Mechanismen
letztlich selbst - wenn auch bewusstlos - hervorgebrachte Produkte menschlicher
Praxis und nicht Naturgegebenheiten sind, können sie auch prinzipiell durch
menschliche Praxis aufgehoben werden. Dies setzt allerdings Subjekte voraus,
die sich ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und ihrer
weltgeschichtlichen Verantwortung bewusst geworden sind und die daher bereit
sind, je in ihren Bereichen, gemeinsam mit anderen dieses gefährliche Getriebe
anzuhalten und auf ein sittliches Zusammenleben der Menschen hin umzuwenden -
Marx nannte dies "revolutionäre Praxis".
2. Dies
erfordert nun aber auch grundsätzlich eine andere Philosophie, nicht mehr eine,
die sich als die nachbegreifende Rechtfertigung der sich von selbst erfüllenden
Bildungsprozesse versteht, wie dies Hegel in der berühmten Vorrede zur
Rechtsphilosophie mit dem Bild der Eule der Minerva umschreibt, die "erst
mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" beginnt (Hegel 7, 28). Nein,
nach Marx ist die Philosophie vielmehr vergleichbar mit dem "Schmettern
des gallischen Hahns" in der Morgenröte eines anbrechenden und
umbrechenden Zeitalters. Ihr Begreifen der bisherigen Geschichte und Gegenwart
ist nicht nachbegreifender Abschluss, sondern bewusster, den
weltgeschichtlichen Aufgaben der Menschheit zugewandter Neubeginn. In ihrer eigenen
Möglichkeit des Bewusstwerdens und Bewusstmachens versteht sie sich selbst als
praktisches Moment der offenen, der zur Entscheidung anstehenden Geschichte,
daher begnügt sie sich auch nicht damit, nur zu erkennen, sondern sieht
ihre Aufgabe gerade im Verjüngen. Diese Philosophie weiß, dass es nicht
darauf ankommt, die zurückliegende Geschichte zu interpretieren, sondern
vielmehr darauf, durch ihre Bewusstseinsarbeit verändernd zu wirken auf eine -
wie Marx sagt - "menschliche Gesellschaft oder gesellschaftliche
Menschheit" hin.
Eine
sich so in den Dienst der menschlichen Emanzipation stellende Philosophie wird
zur Kritik, die nicht mehr die Geschichte von außen als sich selbst
erfüllenden Prozess betrachtet, sondern die sich einmengt in die Auseinandersetzungen
und Kämpfe der Gegenwart und die Partei ergreift für die unter den gegebenen
Verhältnissen Leidenden - in West und Ost und sonst wo -, denn sie folgt - wie
Marx sagt - "dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassendes, ein
verächtliches Wesen ist" (MEW 1, 385).
Grundsätzlich
begreift diese Philosophie Geschichte als noch nicht endgültig entschiedenen
Prozess, der allerdings seiner blinden Naturwüchsigkeit überlassen, einer durch
bewusstlose menschliche Praxis hervorgebrachten ruinösen Zukunft für Mensch und
Natur zutreibt; aber noch ist es Zeit, dass sich der Mensch bewusst in den
bewusstlos geführten Arm fällt. Und hierin liegt die große geschichtliche
Aufgabe der Philosophie, der es in ihrer philosophischen Analyse der
geschichtlichen Situation der Menschen nicht um die Feststellung von
Faktizitäten oder die Verkündung irgendwelcher Heilserwartungen, sondern - ganz
im Kantischen Sinne - um die Aufklärung der Betroffenen über ihre
geschichtliche Lage und ihre geschichtliche Verantwortung geht. Denn einen
Fortschritt in der Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit, also
menschliche Emanzipation kann es nur aus Einsicht und im Kampf gegen
entgegenstehende Mächte geben.
3.
Daraus ergibt sich ein völlig anderes Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein.
Nicht nur der künftige Fortschritt in der Verwirklichung von Freiheit und
Sittlichkeit hängt von der bewussten, solidarischen Praxis der in der Gegenwart
Handelnden ab, sondern auch aller vorhergehenden Fortschritt ist keineswegs
hinterrücks aus der "List" einer anonymen Vernunft erwachsen, sondern
ist das Ergebnis geschichtlicher Emanzipationsbewegungen; nicht linear zwar -
dazu waren die Gegenkräfte zu allen Zeiten viel zu stark - aber untergründig
wirkten beispielsweise die Ideale der Freiheit, Gleichheit und
Geschwisterlichkeit aus dem Kommunismus des Urchristentums über die
frühprotestantischen Bewegung bis in die bürgerliche Revolution und die
sozialistische Bewegung hinein, aber sie lassen sich auch darin nicht
einfrieren, sondern wirken darüber hinaus heute in mannigfaltigen sozialen
Brennpunkten der Gegenwart fort.
Diese
Emanzipationsbewegungen sind auch im Grunde die eigentlichen Träger des
Fortschritts im Bewusstsein und in der Verwirklichung von Freiheit und nicht
die Staaten - wie Hegel meinte -, die bestenfalls das rechtlich kodifizieren,
was jene für sie erkämpften.
Damit
aber wird klar, dass es nicht erst für uns eine weltgeschichtlich
verantwortliche Praxis der Individuen geben muss, wenn wir überhaupt noch
Hoffnung in die Geschichte haben wollen, sondern dass es immer schon eine
solche geschichtlich motivierte Praxis gegeben hat. In dieser Identifikation
des individuellen Befreiungswillens mit der antizipierten menschheitlichen
Sittlichkeit, wie sie den Emanzipationsbewegungen zugrunde liegt, vollzieht
sich das, was man - einen Hegelschen Begriff auf die praktische Füße stellend -
die Subjektwerdung der substantiellen Vernunft der Geschichte nennen könnte. Auf
die immer noch ausständige, aber erstrebte Einheit von individuellem und
allgemeinem Willen in einer solidarischen Gesellschaft ausgerichtet, erfüllen
diese Bewegungen bereits partiell jene Einheit und bringen so schrittweise den
Verantwortungshorizont der Individuen für die Menschheit und die Weltgeschichte
hervor. Und dies ist nicht nur das leere Sollen einer Humanitätsidee, die durch
die reale Macht der Staaten gebrochen wird - wie Hegel gegenüber Kants
philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden polemisiert - sondern
umgekehrt, die in den konkreten Emanzipationsbewegungen erstrebte
weltgeschichtliche Einheit ist stärker als jede vaterländische Gesinnung und
jedes staatliche Gefüge, weil in ihnen die Substanz der Geschichte selbst in
den für sie eintretenden Individuen praktisch Subjekt wird. Davon zeugen nicht
nur die Märtyrer für eine humanere Welt, die allen Foltern standhielt, sondern
auch die revolutionären Bewegungen, die selbst dort, wo sie scheiterten, den
"Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" nachhaltiger voranbrachten
als es die staatlichen Verfassungen je vermochten.
Nicht
parteipolitisch, sondern auf diesen weltgeschichtlichen Verantwortungshorizont
hin hat eine Philosophie menschlicher Emanzipation, im Sinne von Marx, Partei
zu ergreifen.
1Aus: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus
geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie,
Würzburg 1999; ursprünglich vorgetragen auf dem Marx-Symposion im Inter
University Centre in Dubrovnik 1983; zuerst erschienen in: Gajo
Petrovic/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Die
gegenwärtige Bedeutung des Marxschen Denkens. Marx-Symposion 1983 in Dubrovnik,
(Studien zur Philosophie der Praxis I), Bochum 1985.