"Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es."

Simone de Beauvoir: Das Leben einer Intellektuellen

(lucia) ‹ Die französische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir wurde durch ihr philosophisches Essay "Das andere Geschlecht" die intellektuelle Frau des 20. Jahrhunderts und ist es bis heute geblieben. Sie gehörte im Gegensatz zu ihren Vorläuferinnen in früheren Generationen, wie George Sand, George Eliot und Virginia Woolf, der ersten Generation europäischer Frauen an, deren Ausbildung der der Männer entsprach. Auf ihrem Weg zur Schriftstellerin mußte sie schon früh ­ auf der Universität zum Beispiel - und erst recht in ihrem späteren Berufsleben stets mit Männern konkurrieren.

Simone de Beauvoir war die neunte Frau in Frankreich, die das prestigeträchtige Examen der agrégation in Philosophie bestand. Sie wurde zweitbeste nach Jean­Paul Sartre, der allerdings zuvor einmal durchgefallen war. Außerdem war sie geschlechtsunabhängig die jüngste agregée, die es in der Disziplin der Philosophie je gab. Somit wurde Beauvoir Wegbereiterin für ein neues Frauenbild innerhalb der Universitätslandschaft.

Aufgrund ihrer Universitätsausbildung wurde Simone de Beauvoir neben Simone Weil zu einer der ausgeprägtesten Intellektuellen ihrer Epoche. Wegen dieser einzigartigen Position gewannen ihre Erfahrungen, wie es sich deutlich in ihren Romanen darstellt, an Intensität und Schärfe: Konflikte und Widersprüche wurden zu zentralen Themen in ihren Werken, in denen immer wieder intellektuelle Frauen einer partiarchalen Welt ausgesetzt sind. [Simone

Eine Tochter aus gutem Hause

Im Jahr 1908 in Paris geboren, im Künstlerviertel von Montparnasse aufgewachsen, gehörte Simone de Beauvoir jener Generation intellekueller Frauen an, die in den 20er und 30er Jahren volljährig wurden: die Philosophinnen Simone Weil, Hannah Arendt und Mary McCarthy, sowie Margaret Mead, um nur einige zu nennen.

Ihr Elternhaus gehörte zur französischen Bourgoisie, wo kulturelle Werte wie Kunst, Literatur und Theater einen hohen Stellenwert besaßen. Ihre stark religiös orientierte Mutter übernahm die Erziehung der Tochter. Ihr Vater, der als Gegenpol stark antireligiös eingestellt war und weltliche Interessen wie Literatur und Politik vertrat, förderte die Bildung Simones. Mit dieser Diskrepanz - auf der einen Seite die gläubige Mutter, auf der anderen der ungläubige Vater - wuchs sie auf, wobei Spannungen und Konflikte nicht ausblieben.

Ab 1925 studierte Beauvoir Philosophie an der Sorbonne, wo sie Jean­Paul Sartre, den späteren Vertreter der existentialistischen Philosophie, kennen und lieben lernte. Sie schloß ihr Philosophiestudium mit einer Diplomarbeit über Leibniz mit dem Thema: "Der Begriff bei Leibniz" ab.

Finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern

Nach ihrem Hochschulabschluß - der agrégation - unterrichtete Beauvoir an verschiedenen Lyzeen in Marseille, Rouen und Paris. Die Stellung als Lehrerin war für Simone eine bedeutender Abschnitt in ihrem Leben. Durch die Arbeit an der Schule konnte die Autorin die finanzielle Unabhängigkeit von ihren Eltern und die Führung eines autonomen Lebens miteinander verbinden, was zu jener Zeit nur wenigen Frauen gelang.

Als der 2. Weltkrieg begann und Paris von den deutschen Truppen besetzt wurde begann Beauvoir mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Schon 1941 schrieb sie an ihrem ersten Roman : "Sie kam und blieb", der 1943 erschien und von der Literaturkritik als metaphysischer und zugleich existentieller Roman charakterisiert wurde.

Zentrales Thema in diesem und in den anderen Romanen Beauvoirs ist die Sinngebung des Lebens der Frau, die sich gegen eine vom Mann gestaltete Welt auflehnt. Die Freiheit der Frau in heterosexuellen Beziehungen stellt einen weiteren Schwerpunkt Ihres Werkes dar.

Okkupation und Nachkriegszeit nennt Simone de Beauvoir die "moralische Periode" in ihrer literarischen Laufbahn. In einer Welt, die in Krieg und Chaos versank, in der das menschliche Leben nichts mehr galt, suchte Beauvoir einen Ausweg aus dem Grauen des Krieges zu finden. Sie entdeckte ihre Solidarität und ihre Verantwortung für die Welt, angelehnt an Dostojevskijs Zitat: "Jeder Mensch [sei] für alle und alles verantwortlich". Sie versuchte "Moral" in Form von Literatur außerhalb der gesellschaftlichen Zusammenhänge zu definieren. So enstand 1944 der "Widerstandsroman": "Das Blut der anderen". Um Widerstand und Okkupation und um das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung geht es in diesem Roman, der erst nach dem Krieg veröffentlicht werden durfte.

Alle diese Grundthemen, sowie die Auseinandersetzung mit existentialistischen Entscheidungen und Zwangslagen, finden sich überall im Erzählwerk Beauvoir, ebenso in den existentialistisch-ethischen Essays: "Pyrrhus und Cinéas" (1944), "Für eine Moral der Doppeldeutigkeit" (1947) und "Soll man de Sade verbrennen?" (1951). Diese erschienen in der von Sartre gegründeten Zeitschrift "Les Temps Modernes". Weiter verfaßte die französische Autorin von 1945 bis 1955 politische Essays, die vom Verhältnis zwischen moralischem Idealismus und politischem Realismus, Existentialismus und Volksweisheit, sowie Literatur und Metaphysik handeln.

Freiheit ist der Zustand, den der Mensch sich selbst schafft

Allen Werken Beauvoirs liegt folgende These zugrunde: Freiheit ist ein Zustand, den der Mensch sich selbst schafft. Der Einzelne mag zwar unter schwierigen oder eingeschränkten Umständen leben, doch die Wahl zwischen Freiheit und Zwang bleibt dem Individuum unter allen Umständen möglich.

Die Verbindung von Freiheit und Freude am Dasein sind wesentliche Merkmale in Beauvoirs Existentialismus. Erst später, in den 60er Jahren, als sie mit Sartre politisch aktiv wurde, distanzierte sich die Autorin von dem Idealismus ihrer Ansichten.

Der Lauf der Dinge

Von Mitte der 40er Jahre bis zum Ende der 60er Jahre unternahm Beauvoir mit Sartre zahlreiche Reisen durch die USA, die Sowjetunion, die asiatischen und südamerikanischen Länder. Ihrer beider Reisen durch die kommunistisch regierten Länder verstanden sich als Protestkundgebungen gegen die Politik des Westens.

Vehement wandten sie sich auch gegen die Kriege in Vietnam und Algerien. Der Versuch von Sartre und Beauvoir, in den kommunistisch regierten Ländern den "wahren" Sozialismus zu finden, erwies sich jedoch als Fehlschlag. Beauvoirs und Sartres Glaube an den Träger der Weltrevolution ­ die Sowjetunion ­ wurde schließlich durch den gewaltsamen Einmarsch in Ungarn (1956) und die Niederschlagung des "Prager Frühlings" (1968) nachhaltig erschüttert. Zwischen 1946 und 1949 verfaßte Simone de Beauvoir die populärwissenschaftliche Studie: "Das andere Geschlecht" ("Le deuxiéme sexe"): eine ausführliche Analyse der Situation der Frau in der patriarchalen Gesellschaft. Wenn dieses Werk auch heftig von Feministinnen kritisiert und durch moderne Konzepte überholt ist, bildet es doch eines der wichtigsten Grundlagenwerke der feministischen Theorien. Mit der Untersuchung der Gründe für die Unterdrückung der Frau legte sie das Fundament für den modernen Feminismus.

Warum ist die Frau die Andere?

Beauvoirs Ausgangspunkt sind die zentralen Fragestellungen: Was ist eine Frau? und Warum ist die Frau die Andere? Grundlage dieser Fragestellung und Möglichkeiten zu ihrer Untersuchung bietet ihr eigener geistiger Hintergrund: der französische Existentialismus, in welchem sie die geeignete Theorie sieht, um die Situation der Frau - die Dynamik der weiblichen Unterdrückung - zu verstehen. Den philosophischen Kontext Ihres Werkes bildet der Kernsatz: " Man wird nicht als Frau geboren, man wird es". Angelehnt an den von ihr mitbegründeten Existentialismus forderte Beauvoir die Freiheit der Frau. Nach ihrer Vorstellung sollten Frauen ein eigenes, autonomes, vom Mann unabhängiges Leben führen. 1954 erschien ihr weltberühmter Roman: "Die Mandarins von Paris", der mit dem Literaturpreis des Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Beauvoir schildert in diesem Roman den Zerfall einer linksintellektuellen Führungsschicht.

Ab 1958 schrieb sie an ihren Autobiographien: "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause", "In den besten Jahren" (1960) "Der Lauf der Dinge" (1963) und "Alles in Allem". Im ersten Band ihrer Memoiren schildert sie ihren Ausbruch aus den bürgerlichen Verhältnissen. Dieses Dokument einer Befreiung schockierte viele LeserInnen durch die freimütige Auseinandersetzung mit sexuellen, sozialen und intellektuellen Problemen. Der zweite und dritte Band der Memoiren beschreibt Beauvoirs Leben mit Sartre. Dem vierten Band widmet sie eine Rückschau auf ein Stück Lebens- und Zeitgeschichte: die 60er Jahre.

Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1963, den Beauvoir in "Ein sanfter Tod" (1964) beschrieb, wurden Alter und Tod zentrale Themen. Es entstand die essayistische Schrift "Das Alter" (1970). In den 70er Jahren schloß Beauvoir sich der Frauenbewegung an und wurde 1974 Präsidentin der Liga für die Rechte der Frau. Ein Jahr nach Sartres Tod (1980) legte sie "Die Zeremonie des Abschieds" über ihre letzten zehn gemeinsamen Jahre vor. 1986 starb Beauvoir 78jährig in Paris.

Alles in Allem

Zweifellos war Simone de Beauvoir eine beachtenswerte Frau, die sich über jegliche Konvention hinwegsetzte und ihr Leben so gestaltete, wie sie es wollte. Hinzu kommt, daß sie die erste Frau war, die ausschließlich von ihrer Schriftstellerei leben konnte und zudem noch schriftstellerischen Ruhm erlangte. Ihre beharrlichen und geduldigen Bemühungen, eine unabhängige Frau zu werden, sich eine schriftstellerische Karriere aufzubauen und sich der einsamen Aufgabe des Schreibens zu widmen, bezeugen ihren Mut, ihre Ausdauer und ihre Standhaftigkeit.

Folgende Literatur über und von Simone de Beauvoir ist in der Frauenbibliothek ausleihbar:
"Das andere Geschlecht". Sitte und Sexus der Frau; "Das Alter". Essay

Autobiographien:
"Memoiren einer Tochter aus gutem Hause"; "In den besten Jahren"; "Der Lauf der Dinge"; "Alles in allem". "Ein sanfter Tod"

Romane und Erzählungen:
"Die Mandarins von Paris" (Roman); "Eine gebrochene Frau" (Erzählungen) "Mißverständisse an der Moskwa" (Erzählung); "Marcelle, Chantal, Lisa..." (ein Roman in Erzählungen)

Biographien:
Deidre Bair: Simone de Beauvoir; Toril Moi: Simone de Beauvoir. Die Psychographie einer Intellektuellen.