Simone de Beauvoir - Das andere Geschlecht

Daß dieses Buch zu den Klassikern und Simone de Beauvoir damit zu den Klassikerinnen des Feminismus zählt, ist nicht in Zweifel zu ziehen. Unter den drei Autorinnen, die wir für das heutige Seminar ausgewählt haben, ist sie die bekannteste, ihr Rang bedarf keiner weiteren Erklärung oder gar Rechtfertigung. Auch wenn wir in der BZ-Programmankündigung von Schriften der 70er und 80er Jahre ausgehen, ist »Le Deuxième Sexe« zu Recht hier einzuordnen - obwohl das Buch bereits 1949 herausgekommen ist. Zwar hat »Das andere Geschlecht« schon gleich nach Erscheinen in Frankreich - besonders dort - für erhebliche Aufregung gesorgt, doch ist es in Deutsch-land erst mit dem Aufkommen der neuen Frauenbewegung eben in den 70er Jahren zu größerer Bedeutung gelangt. Es gilt als das wichtigste theoretische Werk der neuen Frauenbewegung schlechthin.

Mit der Entstehungsgeschichte und vor allem den Reaktionen darauf befaßt sich Simone de Beauvoir ausführlich in ihrem Memoiren-Band »Der Lauf der Dinge«. Zum Nachlesen sind die Memoiren sehr zu empfehlen, da sie die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen anschaulich schildern und darüber hinaus auch recht lebendig und kurzweilig geschrieben sind.

Doch nun zum Werk an sich, sozusagen zum Originaltext:

Simone de Beauvoir hat das Thema, mit dem Untertitel »Sitte und Sexus der Frau« versehen, in zwei Bücher und sieben Teile gegliedert.

1. Buch - Fakten und Mythen:

·         Schicksal

·         Geschichte

·         Mythos.

2. Buch - Gelebte Erfahrung:

·         Formierung

·         Situation

·         Rechtfertigung

·         Auf dem Weg zur Befreiung.

Allein die Überschriften zeigen schon an, daß diesen fast 700 Seiten sehr umfangreiche und aufwendige Recherchen zugrundeliegen. Die am Ende des Buches aufgeführten Quellen sind zum Teil sehr geläufig: Marx, Engels, Bloch oder natürlich Sartre - ihr Lebensgefährte. Zum überwiegenden Teil sind ihre Literaturhinweise aber nur sehr schwierig aufzuspüren, weil nur unter großen Mühen auszumachen und sicher wegen Sprachschwierigkeiten schnell zum Scheitern verurteilt.

Simone de Beauvoir hat uns mit »Das andere Geschlecht« keine Diplomarbeit oder Dissertation vorgelegt, wo die persönliche Idee oder Interpretation nur selten im Vordergrund steht, sondern ganz im Gegenteil. Ihr Werk zeichnet sich durch einen damals neuen Blickwinkel auf Verhältnisse und Geschichte aus. Simone de Beauvoir bringt damit das herrschende, patriarchale Weltbild ins Wanken, weil sie es benennt, analysiert und kritisiert. Auch wenn sie sich zum damaligen Zeitpunkt nicht als Feministin verstanden wissen will - sie vertrat die unter Linken (noch) weitverbreitete Auffassung, daß sich mit dem Sozialismus die Frauenfrage automatisch lösen werde -, hat sie dennoch für viele Frauen quasi einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Mit »Das andere Geschlecht« hat sie dazu beigetragen, daß Feminismus entstehen konnte. Sie hat aufgezeigt, daß der Mann die Norm, die Frau die Abweichung ist; daß Mann handelt, Frau behandelt wird; daß die Frau aus emotionalen, sozialen, und sexuellen Gründen an den Mann gefesselt ist; daß die Befreiung deshalb ungleich schwieriger ist als die von anderen Unterdrückern (zum Beispiel Arbeitgebern), mit denen keine sozialen Verbindungen bestehen.

Als ich dieses Buch, das ich selbst Ende der 70er Jahre gelesen habe, letzthin wieder zur Hand nahm, mußte ich feststellen, daß viele Sätze, die ich damals unterstrichen hatte, von mir im Lauf der Jahre - wenn auch nicht im Wortlaut - x-mal zitiert wurden. Ob ich mir diese Gedanken daraus zueigen gemacht habe oder auf andere Weise, über andere Quellen erarbeitet habe, vermag ich natürlich nicht mehr zu sagen. Aber es zeigt mir, daß unsere feministischen Wahrheiten oder Weisheiten vermutlich darin ihren Ursprung finden. Um wieviel leichter hätte ich es mir oftmals machen können, hätte ich nur hineingeschaut, um die subtilen Machtmechanismen zu beschreiben. Zur Verdeutlichung ein Zitat aus der Einleitung:

»Das kommt daher, daß es für den Mann schwierig ist, die außerordentlich große Wichtigkeit von nach außen hin unscheinbaren sozialen Differenzen zu ermessen, deren psychologische und intellektuelle Auswirkungen in der Frau derart stark sind, daß es den Anschein erwecken kann, als entspränge sie aus einer ursprünglichen Naturanlage. Ein Mann selbst, der die Sympathie für die Frau hat, kennt niemals richtig ihre konkrete Situation

Nach der Reihenfolge des Buches werde ich nun versuchen, in aller Kürze eine Zusammenfassung der einzelnen Kapitel vorzulegen:

Erstes Buch - Fakten und Mythen

Erster Teil - Schicksal

1. Biologische Voraussetzungen

Simone de Beauvoir untersucht, wie die biologischen Voraussetzungen, wie die Spaltung in ein männliches und ein weibliches Teil, eher zufällig entstanden ist - die evolutionäre Entwicklung hätte auch den Weg zum Zwitter einschlagen können (und es bedürfte anderer Unterscheidungskriterien zur Unterdrückung der einen von den anderen). Dabei stellt sie fest, daß wohl genetische, endokrine [mit innerer Sekretion/Drü-senabsonderung verbundene] oder anatomische Differenzen vorhanden sind, diese Antworten aber nicht ausreichen, um uns zu sagen, »warum ist die Frau die Andere

Wie ihre Analyse der biologischen Voraussetzungen fortwirkt, haben wir in unserem Seminar zu Judith Butlers Buch »Gendertrouble - Das Unbehagen der Geschlechter« vor etwa einem Jahr aufzuzeigen versucht.

2. Der psychologische Gesichtspunkt

Sie behandelt in diesem Abschnitt ausschließlich die Rolle der Frau in der Psychoanalyse. Dabei stellt sie die Psychoanalyse als eine Religion dar und kritisiert deren verwaschene, wenig griffige Begrifflichkeit. So bemängelt sie zum Beispiel die verschwommene Bezeichnung »Sexualität«, wenn differenziert werden soll zwischen »sexual« und genital«. Freud (der Erfinder der Psychoanalyse) versteht unter Libido »eine Kraft im männlichen Sinne«, Frauen, die einen Orgasmus erleben als »männlich ausgerichtet«. Die Psychoanalyse wird also von Beauvoir als eine ins männliche Weltbild passende »Wissenschaft« demaskiert, der Mann wird als Mensch definiert, die Frau als das zugehörige Weibchen.

3. Der Gesichtspunkt des historischen Materialismus

Abgeleitet von der Theorie des historischen Materialismus stellt Simone de Beauvoir fest, daß die Frau nicht einfach als ein geschlechtsbestimmter Organismus betrachtet werden kann.

»Das Bewußtsein, das die Frau von sich selbst hat, wird nicht nur durch ihre Sexualität bestimmt: es spiegelt eine Situation wider, die von der jeweiligen wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft abhängig ist ...«.

Wieviel Wert den Fähigkeiten einer Frau beigemessen wird, hängt also von der Gesellschaft ab. Engels, der Autor von »Der Ursprung der Familie« sieht den Wechsel vom Matriarchat zum Patriarchat in der Arbeitsteilung als Folge der Erfindung neuer Werkzeuge - der Mann geht hinaus in die Welt, die Frau hütet das Haus. Er vertritt die Auffassung, daß durch die Industrialisierung die Frau als Arbeitskraft benötigt wird und sie dadurch ihre Befreiung findet. Die Frau und der Sozialismus sind also schicksalhaft miteinander verbunden. Simone de Beauvoir kritisiert, daß sich der historische Materialismus nicht die Mühe macht zu hinterfragen, wieso sich die Frauen denn das Heft aus der Hand nehmen ließen, wieso das Privateigentum die Versklavung der Frau zur Folge hatte. Als Grund für die Sicht des Materialismus führt sie an, daß der Mensch nicht als ein Ganzes, sondern ausschließlich als ein ökonomisches Wesen betrachtet wird. Diese Kritik leitet sie aus der Theorie des französischen Existentialismus ab, in dem es der Autorin zufolge um das menschliche Individuum und nicht das Kollektiv geht.

Ebenso wie die Psychoanalyse ist der wirtschaftliche Monismus [Lehre, die alles aus einem Prinzip heraus erklärt] Engels abzulehnen. Weder »klitoral« oder »vaginal« noch »bürgerlich« oder »proletarisch« sind geeignete Begriffe, mit denen sich die Frau in ihrer Existenz erfassen läßt.

Zweiter Teil - Geschichte

1. (Vorgeschichte)

Simone de Beauvoir untersucht die vorgeschichtlichen und ethnologischen Gegebenheiten, um die Geschlechterhierarchie zu erklären. Dabei geht sie von dem Grundsatz aus, daß die Existenz zweier menschlicher Kategorien bedingt, daß die eine der anderen überlegen sein will. Der Mann hat sich dabei durchgesetzt, aber warum? Warum ist es der Frau nicht gelungen, aus ihrer Fähigkeit zu gebären, ein dauerhaftes Vorrecht abzuleiten?

Als Grund dafür führt sie an, »daß die Menschheit nicht einfach eine natürliche Gattung darstellt; sie versucht sich auch nicht nur als solche zu erhalten; sie plant nicht das Stehenbleiben, sondern sie strebt danach, sich selbst zu überschreiten.« Dabei aber weist Beauvoir der Frau eine passive Rolle zu: Gebären etc. faßt sie nicht als aktiv, sondern als rein natürlich auf. Der Handelnde ist der Mann, er weitet die Grenzen der Welt gewaltsam aus.

Beauvoir findet diese Definition auch in der Dialektik Hegels bestätigt. Der Mann setzt sein Leben ein für ein höheres Ziel - er bejaht den Geist gegen das Leben, während die Frau das Leben gibt, es aber nicht wagt. Die Frau setzt den männlichen Werten niemals weibliche entgegen.

»Weil die Menschheit sich in ihrem Sein in Frage stellt, das heißt dem Leben die Berechtigung zu Leben vorzieht, hat der Mann sich der Frau als der Herr setzen können

2. (Frühgeschichte)

In diesem Abschnitt sind die Menschen bereits seßhaft, treiben Ackerbau und haben kollektive Besitztümer. Es entstehen Matriarchate, wie sie heute noch in einigen abgelegenen Regionen anzutreffen sind. (Zum Beispiel bei den Mosso im chinesischen Grenzland zu Tibet, wo Frauen Besuchsehen führen, die Erbfolge, die Weitergabe des Namens etc. matrilinear [der mütterlichen Linie folgend] sind.) Ein Vater spielt bei der Fortpflanzung noch keine bewußte Rolle; seine biologische Funktion wird Geistern oder Ahnen zugeschrieben. Folgerichtig sind auch die obersten Gottheiten weiblich. Simone de Beauvoir behauptet nun, entgegen der Auffassung von Engels sei das goldene Zeitalter der Frauenherrschaft nur ein Mythos.

»..., sie mochte Erde, Mutter, Göttin sein, doch war sie dem Manne nicht gleichgestellt, ihre Macht bekundete sie nur jenseits des menschlichen Bezirks; sie stand also außerhalb. Die Gesellschaft ist immer eine männliche Gesellschaft gewesen; die politische Macht hat immer in den Händen der Männer gelegen

Die Frauen waren niemals Subjekt, waren den Männern niemals autonom gegenübergestanden. Diese Situation hat sich bis heute nicht geändert, nur die mystische Aura ging verloren; der Mann hat sich von der Natur befreit. Diese Befreiung setzte mit dem Übergang von der Stein- zur Bronzezeit ein, der Mann macht sich die Erde untertan und erschafft die Welt neu - die obersten Gottheiten werden männlich. »Die Männer entscheiden, ob ihre höchsten Gottheiten weibliche oder männliche sind; ...« Durch die Tatsache der Gebärfähigkeit etc. bleibt der Frau die neue Welt verschlossen; »..., weil sie in dumpfer Abhängigkeit von den Mysterien des Lebens verharrte, ...« und »...; je mächtiger er wird, desto mehr nimmt sie ab.« Den Wechsel in der Erbfolge stellt Beauvoir als die größte ideologische Revolution in der Urzeit hin - die Frau wird zum Besitz des Mannes, die ihm dienend Kinder gebiert; er ist der Erzeuger. In Gesetzen und Religionen setzt sich fort, was die griechischen Philosophen untermauern: Anderssein ist dasselbe wie Verneinung - also alles Böse.

Nach Beauvoir sind matrilineare Gesellschaften patriarchalen kulturell unterlegen. Es erscheint mir fraglich, ob diese Aussage nach etlichen Jahren Matriarchatsforschung so noch haltbar ist.

3. (Die Antike)

Die Frau ist zum Besitz des Mannes geworden - des Vaters, des Ehemannes. Gebiert sie ihm eine Tochter, ist es ein großmütiger Akt, wenn er sie am Leben läßt. Er kann sich viele Frauen nehmen, sie ist zur Keuschheit und absoluter Treue verpflichtet. Handelt sie zuwider, kann er sie töten. In unterschiedlicher Ausprägung haben diese Regeln noch heute Geltung. Simone de Beauvoir untersucht in diesem Kapitel die Erscheinungsformen in verschiedenen Gesellschaften: bei den Juden, den Babyloniern, den Ägyptern, den Griechen, den Römern. Eine Ausnahme stellt der Autorin zufolge allerdings Sparta dar, wo alles dem Gemeinwohl dient, es kein Privateigentum gibt.

Dort ist die Frau dem Mann gleichgestellt und genießt dieselben Freiheiten. Unerwähnt läßt sie dabei allerdings, daß es sich bei den Spartanern um eine Sklavenhaltergesellschaft handelte.

4. (Mittelalter bis Renaissance)

Nun bekommt die christliche Kirche allmählich in Europa Oberhand. Daß ihr in punc-to Frauen nur Schlechtes nachzusagen ist, wird an dieser Stelle verdeutlicht. Paulus: »Aber wie nun die Gemeinde ist Christo untertan, also auch die Weiber ihren Männern in allen Dingen Der heilige Chrysostomus: »Unter allen wilden Tieren findet sich keines, das schädlicher ist als das Weib Der Zölibat unterstreicht den gefährlichen Charakter der Frau und ihre Verworfenheit. - Dem standen die Sitten der Barbaren gegenüber, wo Frauen Priesterinnen und Prophetinnen waren und eigenständige Rechte besaßen. Dieser Zwiespalt zieht sich durchs gesamte Mittelalter; so waren die Germanen den Frauen gegenüber unerbittlicher als zum Beispiel die Franken. Unter den Merowingern und Karolingern zählte der Ehebruch einer Frau zehnmal schwerer als der eines Mannes; dagegen der Mord einer Schwangeren viermal soviel wie der eines freien Mannes. Unter der höfischen Minne wird das Los der Frauen etwas gemildert, sie nimmt sogar an kriegerischen Auseinandersetzungen teil, doch bleibt der Ehemann der Vormund der Frau. So auch im aufkommenden Bürgertum. Nur die Unverheiratete und die Witwe sind juristisch dem Mann gleichgestellt.

Allenthalben wird die Existenz der Dirnen als ein notwendiges Übel angesehen. Dazu sagt der heilige Thomas: »Die Dirnen sind für eine Stadt, was die Kloake für einen Palast: schafft man die Kloake ab, so wird der Palast ein unsauberer und von üblen Düften durchzogener Ort Im Hochmittelalter trägt die Sittenfreiheit dazu bei, daß es kaum Dirnen gibt, die Sittenstrenge des Bürgertums hingegen bewirkt das Gegenteil.

Eine Ausnahmestellung in jeder Hinsicht haben eine Zeitlang die Klosterfrauen, die einerseits Zugang zu Bildung erlangen, andererseits weitestgehend von Männern unbehelligt ihr Leben gestalten können. (In diesem Zusammenhang sei der vom BZ neuerdings angebotene Stadtrundgang wärmstens empfohlen.)

Als Gegenstand ihrer Untersuchungen dienen Simone de Beauvoir vor allem die Biographien namhafter historischer Frauengestalten - Frauen aus gutem Hause, Künstlerinnen etc. Von ihnen kann im groben behauptet werden, daß ihre Freiheiten und ihr Einfluß im Lauf der Jahrhunderte zunahmen. Das Los der Mehrzahl der Frauen aber kommt auch bei ihr zu kurz, da Arbeiterinnen oder Bäuerinnen in der Geschichtsschreibung so gut wie nicht vorkommen.

5. (bürgerliche Revolution von 1789 bis Neuzeit)

Hatten die Frauen der arbeitenden Klassen im Ancien Régime eine gewisse Selbständigkeit erlangt - sie konnten Handel treiben oder ein Handwerk ausüben -, scheitern die Forderungen zur Abschaffung der Männerrechte von Olympe de Gouge auf dem Schafott. Die bürgerliche Revolution war von Männern für Männer gemacht. Dennoch, die Frau wird in der Erbfolge gleichgestellt, die Ehescheidung gesetzlich anerkannt. Unter der napoléonischen Herrschaft degradiert die Frau zur Gebärmaschine, die Rechtsprechung verschärft sich, die Ehescheidung wird Anfang des 19. Jahrhunderts wieder abgeschafft und ca. 40 Jahre später - unter erschwerten Bedingungen - wieder eingeführt. Das erstarkte Bürgertum fühlt sich von der industriellen Revolution bedroht und zieht deshalb alle autoritären Register. Die Industrialisierung fördert nach Simone de Beauvoir die Emanzipation der Arbeiterklasse und der Frau. Es entsteht die Utopie der »freien Frau«, doch die Verherrlichung alles Weiblichen hat stärkeres Gewicht. Im Gegensatz zu Saint-Simeon sieht Proudhon [beide Sozialtheoretiker des 19. Jahrhunderts] die Rolle der Frau einzig als Hausfrau oder Kurtisane und setzt sich für die Trennung von sozialistischer und Frauenbewegung ein. Marx, Engels, Bebel jedoch entdecken im Sozialismus die Befreiung der Frau. Vordergründig gibt ihnen das Maschinenzeitalter auch Recht. Dennoch ist der weibliche Zulauf zu den Gewerkschaften Anfang dieses Jahrhunderts sehr zögerlich, und das, obwohl die Frauen zu weitaus grausigeren Bedingungen in den Fabriken ausgebeutet werden. So waren den Frauen nur wenige Tätigkeiten untersagt, zum Beispiel ab 21 Jahren die Arbeit unter Tage oder in Steinbrüchen. Weitere Rechte werden erst Jahre später eingeführt. Simone de Beauvoir wirft den Frauen vor, sich zu resignativ und schlaff verhalten zu haben, nicht genügend gekämpft zu haben, daß es ihnen nicht um eine eigenständige Existenz gegangen ist, sondern sie sich als Anhängsel der Ehemänner verstanden haben. Aber auch in den Gewerkschaften war mann nicht der Auffassung, daß Frauen ebenso bezahlt werden müßten wie Männer.

Simone de Beauvoir gibt in diesem Kapitel auch eine Übersicht über die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs und über den Kampf um das Frauenstimmrecht. Diesen Teil will ich aber nicht weiter vertiefen.

Zusammenfassend stellt Beauvoir fest:

»Ebenso wie es in Amerika kein schwarzes Problem, sondern nur ein weißes gibt, ebenso wie der Antisemitismus nicht ein jüdisches, sondern unser Problem, so ist auch die Frauenfrage stets nur ein Problem der Männer gewesen

Und sie zeigt auf, daß die Frau bis heute nicht in der Öffentlichkeit gleichberechtigt präsent ist, ihr zwar bessere berufliche Möglichkeiten offenstehen, ihr aber nach wie vor die Erfüllung in Ehe und Familie nahegelegt wird. Die Frauen erstreben, den Männern zu gefallen, um so an ihrer Geltung, an ihren Privilegien und ihrer Macht teilzuhaben.

»Daraus ergibt sich, daß die Frau sich nicht als Eigenexistenz kennt und wählt, sondern als das, was sie in den Augen des Mannes ist

Dritter Teil - Mythos

1.

Der Mann ist in der christlichen Genesis [1. Buch Mosis mit der Schöpfungsgeschichte] für die Frau zugleich Ursprung - sie wurde aus ihm erschaffen - und Daseinszweck - sie ist seine Ergänzung; Gott hat dem Mann die Frau gegeben. Das Dasein des Mannes stellt ein Recht dar, das der Frau einen Zufall. Gott ist ein Mann und von Männern erdacht, die Frau spielt nur eine Nebenrolle und existiert einzig in ihrer Beziehung zum Mann. Die Frau stellt einen Mythos dar »Sie ist Idol und Magd, Quell des Lebens und Macht der Finsternis; sie ist das urhafte Schweigen der Wahrheit selbst und dabei unecht, geschwätzig, verlogen; sie ist Hexe und Heilende; sie ist die Beute des Mannes und seine Verderberin, sie ist alles, was er nicht ist und was er haben will, seine Verneinung und sein Daseinsgrund.« Die Frau ist immer das Andere, die Abgrenzung. Simone de Beauvoir belegt diese Erkenntnis anhand der griechischen Gottheiten, deren Eigenschaften nicht willkürlich männlichen oder weiblichen Göttern zugeordnet sind; anhand der unterschiedlichsten Religionen - die Rolle der Frau ist immer gleich zwiespältig: gut und böse, Heilige und Hexe. Und allenthalben werden ihr mystische Fähigkeiten zugeschrieben, besonders im Zusammenhang mit der Menstruation, die zum Beispiel Fleisch verderben läßt, den Wein am Gären hindert oder schlimmer noch, die Manneskraft raubt. Die vollendetste Form des weiblichen Mysteriums aber ist die Jungfräulichkeit; entweder hindert sie an der Eheschließung oder sie ist Voraussetzung dafür - je nach Kultur und Religion verschieden, aber niemals bedeutungslos.

Damit aber nicht genug, wünscht der Mann auch, daß die Frau den herrschenden Schönheitsidealen entspricht. Zwar wechseln die Vorstellungen, doch sind immer passive Eigenschaften gewünscht - bis hin zu den bandagierten und deformierten Füßen der Chinesinnen der Oberschicht. Und diese Vorzüge gereichen dem Mann als Verdienst und zur Selbstbestätigung.

2.

In den nun folgenden Passagen belegt Simone de Beauvoir den Mythos des Weiblichen anhand der Werke einer Reihe von Schriftstellern: Montherlant, D. H. Lawrence, Claudel, Breton und Stendhal. Es wäre gewiß einer Untersuchung und eines separaten Seminares wert, darüber hinaus auch einmal die zeitgenössischen Schriftsteller unter diesem Aspekt unter die Lupe zu nehmen. Ich habe mir deshalb erlaubt, diesen Abschnitt zu überspringen.

3.

Daß der Mythos in der Literatur eine hervorragende Rolle spielt, steht fest, von der Bedeutung im alltäglichen Leben handelt dieses Kapitel des Buches. Keine Frau erfüllt die Mythen umfassender Weiblichkeit. Wo immer sie dem verklärten Frauenbild nicht entspricht, wird ihr vorgeworfen, unweiblich zu sein. Gleichzeitig bietet das »Geheimnis der Weiblichkeit« den Männern den Vorteil, sich überhaupt nicht der Mühe unterziehen zu müssen, Frauen zu verstehen. Mit dem dänischen Existenzphilosophen Kierkegaard hält Beauvoir fest, daß es Männer gemeinhin vorziehen, mit dem »ewigen Geheimnis Weib« zu leben, statt eine echte Beziehung zu einem menschlichen Wesen einzugehen. Warum? »Ein Existierender ist nichts anderes als das, was er tut; das Mögliche reicht nicht über das Wirkliche hinaus, die Essenz geht der Existenz nicht voran Kurz: »Solange die Frau in der Welt abseits steht, kann sie sich nicht objektiv in dieser Welt definieren, und ihr Geheimnis deckt nur Leere zu Nicht die Bäuerin oder die Arbeiterin ist vom Mythos umgeben, sondern die erdachte »Traum-figur«. Sobald die Frau beginnt eigenständig zu handeln, geht ihr Mythos verloren.

Zweites Buch - Gelebte Erfahrung

Simone de Beauvoir erkennt, daß die Frau im Begriff ist, den Mythos abzuschütteln. Natürlich kann sie sich im folgenden nur auf das Frauenbild beziehen, das Mitte unseres Jahrhunderts vorherrscht - seitdem hat sich ja einiges verändert.

Erster Teil - Formierung

1. Kindheit

»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es

Diese grundlegende Erkenntnis bestimmt maßgeblich auch die heutige Geschlechterforschung. Beauvoir behauptet, daß sich Mädchen und Jungen bis zum Alter von zwölf Jahren gleich entwickeln könnten, würden sie von der Gesellschaft nicht unterschiedlich behandelt. Wie differenziert nach Geschlechtern die Erziehung bereits vom Säuglingsalter an erfolgt, führt sie anhand zahlreicher Beispiele auf: die Spaltung in das Subjekt Mann und das Objekt Frau wird bereits in frühester Kindheit in die Menschen eingraviert. Auch wenn sich das Heranwachsen zum Objekt nicht ohne Widerstände vollzieht, spätestens mit der Menarche, dem Einsatz der Menstruation, begreift das Mädchen ihre Minderwertig-keit.

2. Jugend

Die Zeit der Jugend erscheint dem Mädchen nur als Übergang, als Wartezeit - auf den Mann. In ihm sieht sie ihre ganze Zukunft. Er ist ihr überlegen, er wird ihre wirtschaftliche und soziale Grundlage sein. Im Gegensatz dazu versteht der junge Mann die Frau nur als ein Element seines Lebens. Während sie auf ihn wartet, erobert er die Welt. Mädchen, die sich mit diesem Schicksal nicht abfinden, werden einerseits durch die Familie stark in die Hausarbeit eingebunden und dadurch am Gelingen ihrer Ausbildung gehindert, andererseits stellen sie selbst fest, daß sie sich zurücknehmen müssen, wenn sie gefallen wollen. Simone de Beauvoir untersucht an dieser Stelle die Bedeutung von Mädchenfreundschaften und -rivalitäten. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis »Charakter und Betragen des jungen Mädchens sind der Ausdruck ihrer Situation - »Das Sein bestimmt das Bewußtsein«, hat Marx das genannt. Auch Mitte dieses Jahrhunderts besteht für Frauen bereits die (theoretische) Möglichkeit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber:

»Solange keine völlige wirtschaftliche Gleichheit in der Gesellschaft verwirklicht ist, und solange die Gepflogenheiten die Frau ermächtigen, als Gattin und Geliebte die Privilegien auszunützen, die gewisse Männer innehaben, wird sich der Traum eines Vorwärtskommens ohne eigenes Zutun bei ihr erhalten und ihre eigene Vollendung hemmen.«

3. Erste Erfahrung

Erste Erfahrungen bedeutet erste sexuelle Erfahrungen. Hier beschreibt Beauvoir, wie sich in der Sexualität die Kompliziertheit der Situation der Frau spiegelt. Vor der Ehe hat die Frau selbstverständlich ihre Keuschheit zu wahren, während der Mann Erfahrungen sammeln muß; er geht aus dem Koitus unversehrt, sie defloriert und schlimmstenfalls auch noch schwanger hervor. Das Auseinanderklaffen von Subjekt und Objekt wird hier am deutlichsten. Und wieder lautet das Resümee der Autorin, daß sich die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen ändern müssen. Erst dann kann für beide Seiten ein größtmöglicher Lustgewinn erzielt werden.

4. Lesbische Liebe

»... während die Frau sich in einer harten und männlichen Welt bewegt. Ihre Hände behalten die Lust, den glatten Körper wie eine schmelzende Frucht zu betasten im Jüngling, in der Frau, in den Blumen, im Pelzwerk, im Kind

Daraus schlußfolgert Simone de Beauvoir die Existenz der Lesbierin. Sie geht gegen die Auffassung an, Homosexualität sei eine Krankheit - weder eine physische noch eine psychische.

»Kein sexuelles Schicksal bestimmt das Leben eines Individuums. Im Gegenteil, seine Erotik ist der Ausdruck seiner Gesamthaltung gegenüber der Existenz

Zweiter Teil

5. Ehe

Simone de Beauvoir sieht die Bedeutung der Ehe in einer Phase des Übergangs. Einerseits entwickelt sie sich hin zu einer freiwillig eingegangenen Verbindung, die der Frau gegenüber zum großen Teil den Charakter der Hörigkeit und totalen Abhängigkeit verloren hat - auch die Scheidung ist mittlerweile möglich geworden. Zum anderen Teil sind gerade die Frauen im Produktionsprozeß den herkömmlichen Strukturen und Wertbegriffen noch stark verhaftet. Beauvoir untersucht deshalb die historische Bedeutung der Ehe. (Wie auch in den vorausgegangenen Kapiteln bedient sie sich zur Untermauerung ihrer Thesen literarischer »Beweise«.) Seitdem so etwas wie Eheverträge bestehen, und das geht schon sehr lange so, »ist die Ehe für die Frau der einzige Broterwerb und die einzige soziale Rechtfertigung ihres Daseins Und das aus zweierlei Gründen: um der Gemeinschaft Kinder zu schenken und um die sexuellen Bedürfnisse des Mannes zu befriedigen und seinen Hausstand zu besorgen. Als Gegenleistung hat er für ihren Unterhalt aufzukommen. Die Ehe kann nicht einseitig aufgelöst werden, sondern bedarf der Zustimmung einer gesellschaftlichen Institution. Für den Mann ist die Ehe hingegen eine Erweiterung seiner Existenz, aber nicht die Daseinsberechtigung schlechthin. Von der Frau wird erwartet, daß sie sich selbst aufgibt und in ihm aufgeht - er verkörpert sie in den Augen der Gesellschaft. Die Frau erträgt die Ehe nur, wenn sie ihre Hörigkeit akzeptiert. Zwar sind die Frauen auch schon in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts auf dem Weg, diese Fesseln zu sprengen, doch sind sie bis heute nicht abgelegt, sondern sitzen noch recht fest. Gerade im Wonnemonat Mai vergeht kein Wochenende, an dem uns nicht allen Ecken die glücklichen weißen Bräute begegneten.

Simone de Beauvoir spricht sich gegen die Erotik als Basis für eine dauerhafte Beziehung aus:

»In Wirklichkeit läßt sich eben die körperliche Liebe weder als absoluter Zweck noch als einfaches Mittel behandeln. Sie vermag eine Existenz nicht zu rechtfertigen. Sie läßt aber auch keine fremde Rechtfertigung zu. Das heißt, sie müßte in jedem Menschenleben eine episodenhafte und autonome Rolle spielen, sie müßte eben vor allem frei sein

Aus dieser Erkenntnis resultiert letztlich auch die gelebte Verbindung Beauvoirs mit Sartre.

6. Mutterschaft

Dieses Kapitel behandelt nochmals ausführlich die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs. Wie schon weiter oben, will ich auf diesen Part nicht weiter eingehen, da das Thema einerseits über Jahrzehnte hinweg in der feministischen Diskussion stand, die Fakten deshalb weitgehend präsent sein dürften. Andererseits gibt das Thema Stoff für ein separates Seminar her und kann darum nicht »unter anderem« beleuchtet werden.

Ist aus der Schwangerschaft aber eine Mutterschaft geworden, ist sie »nicht mehr ein Objekt, das einem Subjekt unterworfen ist. Sie ist auch kein Subjekt mehr, das sich über seine Freiheit ängstigt, sie ist eine zwiespältige Wirklichkeit, die sich Leben nennt. Ihr Körper gehört endlich ihr, da er für das Kind da ist, das ihr gehört Daß sich die Mutter als Wesen an sich und als feststehenden Wert empfindet, erkennt Simone de Beauvoir als Selbsttäuschung. Und ebenso geht sie gegen die Behauptungen an, »das Kind sei der oberste Zweck der Frau« und »das Kind findet sein zuverlässiges Glück in den Armen der Mutter«. Gleichzeitig weist sie auch auf das Paradoxon hin, einem Wesen, das als unmündig gehalten wird, die Erziehung des Nachwuchses anzuvertrauen. Sie hält ein Plädoyer für die Berufstätigkeit der Frau und die qualifizierte aushäusige Erziehung. Solange die biologische Mutterschaft zwangsläufig die soziale Rolle der Frau als Mutter nach sich zieht, müsse sie abgelehnt werden.

7. Gesellschaft

Die Rolle der Frau in der Gesellschaft (im gesellschaftlichen Leben) ist die der Ehefrau. Ihr Aufgabe besteht darin, die Familie zu repräsentieren. Dazu ist sie verpflichtet, ihr Heim zu schmücken und sich selbst - in Maßen - als sexuelles Objekt herauszuputzen; darüber drückt sie ihre soziale Stellung aus. Beauvoir widmet diesen Abschnitt des Buches der Bedeutung der Mode und Kosmetik in der bürgerlichen Gesellschaft, den Rivalitäten unter Frauen und deren begrenzter Solidarität. Abschließend resümiert sie:

»Es ist sehr schwierig für eine Frau, von Mensch zu Mensch zu handeln, solange diese Gleichheit nicht allgemein anerkannt und in die Tat umgesetzt ist

8. Dirnen- und Hetärentum

Die Prostituierte ist das Pendant zur verheirateten Frau - für beide ist der sexuelle Akt eine Dienstleistung, nur ist der Vertrag von unterschiedlicher Dauer. Nach Beauvoirs Ausführungen sind es besonders wirtschaftliche Verhältnisse (vor allem Arbeitslosigkeit), die die Zahl der Prostituierten steigen läßt. »Solange es eine Polizei, eine Prostitution gibt, finden sich Polizisten und Prostituierte, ...« Und es ist die verlogene Moral der patriarchalen Gesellschaft: neben der geforderten Keuschheit der Ehefrau will der Mann seine sexuellen Phantasien ausleben können.

Viel Aufmerksamkeit schenkt Simone de Beauvoir auch der Geschichte der edlen Dirne, der Hetäre, der Kurtisane, der Geisha. Sie genießen weitaus größere Freiheiten als die braven Hausmütterchen.

»Das Geld spielt eine reinigende Rolle. Es beseitigt den Kampf der Geschlechter. ... Sie wird nicht in Besitz genommen, da sie bezahlt wird

9. Von der Reife zum Alter

Während der Mann eher gemächlich vor sich hin altert, sind die einzelnen Phasen eines Frauenlebens bruchartig strukturiert. Mit diesem Kapitel sind wir beim Klimakterium [den Wechseljahren] angelangt. Gewöhnlich fällt die Menopause in etwa mit der Zeit zusammen, wo die Kinder (oft auch der Mann) aus dem Haus sind. Die bürgerliche Gesellschaft spricht der Frau jegliche sexuelle Attraktivität ab. Aber sie ist endlich frei. »Sie entdeckt diese Freiheit gerade in dem Augenblick, wo sie nichts mehr mit ihr anzufangen weiß Doch es bleibt ihr ein Trost im Alter: Während der Mann im Alter seine öffentlichen Funktionen verliert und völlig unnütz und zur Last wird, bleibt ihr der Herd, das Regiment über den Haushalt. Erkennt sie nun ihren Lebensbetrug, ist es zu spät.

»In keinem Alter ihres Lebens gelingt es ihr, gleichzeitig sich auszuwirken und unabhängig zu sein

10. Situation und Charakter der Frau

Nach Simone de Beauvoir ist die Situation der Frau seit den Griechen dieselbe geblieben, die Veränderungen waren nur oberflächlich. Sie versucht in diesem Abschnitt das Ewigweibliche in seiner Gesamtheit zu erfassen. Dabei läßt sie die vorausgegangenen Kapitel nochmals Revue passieren und hält fest »..., daß der Gesamt-Charakter der Frau, ihre Überzeugungen, ihre Werturteile, ihre Weisheit, ihre Moral, ihr Geschmack, ihre Verhaltensweisen sich aus ihrer Situation erklären Es ist müßig, nach den Unter-schieden zwischen Männern und Frauen zu suchen; die Situationen, die Lebensum-stände sind es, aus denen sich die Differenzen ableiten. »Es gibt für die Frau keinen anderen Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten Und diese Befreiung kann nur kollektiv gelingen.

Dritter Teil - Rechtfertigung

11. Narzißmus

Hier widerlegt Simone de Beauvoir die Auffassung, Narzißmus sein die Grundhaltung jeder Frau: »In Wirklichkeit ist der Narzißmus ein wohl definierter Entfremdungsvorgang: Das Ich wird als ein absolutes Ziel gesetzt, und das Subjekt flüchtet sich in dieses hinein Weil der Frau kein wichtiges Objekt zugänglich ist, erträumt sie sich selbst dazu. »Die Komödie des Narzißmus spielt sich jedoch auf Kosten des realen Lebens ab Selbst der Narzißmus also ist zum Scheitern verurteilt.

12. Liebe

Der Begriff »Liebe« führt unweigerlich zu Mißverständnissen, weil er für Männer etwas anderes ausmacht, nämlich nur eine Beschäftigung, als für Frauen: das eigentliche Leben. Diese Differenz ist nicht naturgegeben, sondern ein Spiegelbild der weiblichen Immanenz des Objekts und der männlichen Transzendenz des Subjekts. Weil ihr die Gesellschaft keinen anderen Ausweg läßt, macht sie aus der Not eine Tugend und aus dem Geliebten einen Gott. »Sie entschließt sich so heftig für ihre Versklavung, daß diese ihr als der Ausdruck ihrer Freiheit erscheint. ...: Sie vernichtet sich vor ihm. Die Liebe wird für sie zur Religion Beauvoir plädiert deshalb für eine authentische Liebe, die auf der gegenseitigen Anerkennung von Freiheit beruht und aus der weder die Frau noch der Mann verstümmelt hervorgeht.

13. Mystik

Hier geht es um die frommen oder besser um die frömmelnden Frauen und die Vermischung von angebetetem Mann und Gott. (Nonnen bezeichnen sich ja auch als Bräute Gottes!) Ich will diesem Abschnitt nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, denn:

»Ent-weder setzt sich die Frau in Verbindung mit einem Irrealen - ihrem Double oder Gott -, oder sie schafft sich eine irreale Verbindung mit einem realen Wesen. ... Sie bleibt um ihre Freiheit betrogen. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese authentisch zu vollen-den: Sie in einer positiven Aktion in die menschliche Gesellschaft zu projizieren

Vierter Teil - Auf dem Weg zur Befreiung

14. Unabhängigkeit

In Gesetzbüchern festgeschriebene Rechte garantieren der Frau keine Freiheit, nur Berufstätigkeit ist dazu in der Lage.

»Sowie sie ihr Parasitentum aufgibt, bricht das System, das sich auf ihre Abhängigkeit gründet, zusammen. Zwischen ihr und dem Universum braucht es keinen männlichen Mittler mehr

Für die Mehrzahl der Frauen bedeutet Berufstätigkeit aber einerseits so niederige Löhne, daß sie für eine eigenständige Existenz nicht ausreichen. Andererseits bleibt ihnen die Belastung der Hausarbeit dadurch zusätzlich erhalten.

Simone de Beauvoir untersucht die Situation von privilegierten Frauen, die sich wirtschaftliche Unabhängigkeit erobert haben:

»Die Frau, die sich wirtschaftlich vom Mann unabhängig macht, ist nicht in der gleichen sittlichen, sozialen und psychologischen Situation wie der Mann. ... Dadurch, daß man die weiblichen Attribute ablehnt, erwirbt man sich nicht die männlichen Attribute. ... Sie will gleichzeitig als Mann wie als Frau leben: Dadurch vervielfacht sie ihre Aufgaben und ihre Belastung

Und sie erkennt den Zwiespalt der beruflichen und sexuellen Interessen: daß eine Frau für berufliche Anerkennung weitaus mehr leisten muß als ein Mann, für sexuelle Anerkennung aber diese Vorzüge verleugnen muß.

Schlußfolgerungen

»Eine Welt, in der Mann und Frau gleich sind, kann man sich leicht vorstellen. Denn es ist genau die Welt, welche die sowjetische Revolution versprochen hatte«:

Gleichheit in puncto Erziehung, Arbeit, Lohn, Freiheit in puncto Sexualität, Ehe, Mutterschaft. Noch einmal hebt Simone de Beauvoir hervor, wie wichtig es ist, daß die Frau wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Mann erreicht, schränkt aber auch ein, daß dies nicht genügt - auch moralisch, sozial, kulturell etc. müssen Veränderungen vor sich gehen.

»Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. Aus dem Charakter dieses Verhältnisses folgt, inwieweit der Mensch als Gattungswesen, als Mensch sich geworden ist und erfaßt hat; das Verhältnis des Mannes zum Weib ist das natürlichste Verhältnis des Menschen zum Menschen. In ihm zeigt sich also, inwieweit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich und inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist

Mit diesem Marx-Zitat endet »Das andere Geschlecht«.


Simone de Beauvoir hat uns ein dickes Buch hinterlassen, in dem nahezu alle wesentlichen Felder der Frauen- und Geschlechterforschung angesprochen sind. Ihre Arbeit können wir direkt oder indirekt als Ausgangspunkt aller weiteren Untersuchungen verstehen.

Abgesehen von den Urteilen aus dem patriarchalen Lager, die wir getrost außer acht lassen können, besteht auch Kritik aus feministischer Sicht. So wird ihr vorgeworfen, den Mann als überlegen anzuerkennen (Cornelia Wagner), die Männlichkeit zu mytho-logisieren (Ursula Konnertz), das Frau-Sein auf biologische Funktionen zu reduzieren (Nancy Hartsock), den weiblichen Körper als etwas Negatives zu sehen (Jean Elshtain, Rosemarie Tong), Mensch-Sein mit Mann-Sein gleichzusetzen (Heidemarie Bennent), von der Frau Transzendenz zu fordern, die nur auf aufgrund ihres Ausschlusses mög-lich sei (Genevieve Lloyd).

Auch wenn wir etliche ihrer Behauptungen oder Erkenntnisse als überholt Betrachten - und manche zur Zeit in der Diskussion leider arg vernachlässigt werden (ich denke dabei vor allem an die Ökonomie) -, sie gab mit ihrem Werk den Anstoß zu Forschungsarbeiten und Theorien in alle Richtungen. Sei es die »Gleichheit- und Differenz-Debatte«, sei es die »Mittäterschaft« oder der »Konstruktivismus und Dekonstruktivismus«, überall treffen wir auf »Le Deuxième Sexe«. Und auch nach fast 50 Jahren steckt noch jede Menge brisanter Themen darin.

Ebenso wie wir und andere an dem Buch unsere Kritik anmelden, hat sich auch der Blick die Autorin gewandelt - von einem menschlichen zu einem feministischen: Im Alter hat Simone de Beauvoir ihre Meinung zum Thema Feminismus revidiert oder relativiert. In ihrem Memoirenband »Alles in allem« schreibt sie:

»Wenn ich an Demonstrationen teilgenommen und mich für eine ausgesprochen feministische Aktion engangiert habe, so deshalb, weil sich meine Einstellung zur Lage der Frau verändert, weiterentwickelt hat. Was die Theorie anlangt, ...., würde ich, ..., der Spannung zwischen dem Selbst und dem Anderen eine materialistische statt einer idealistischen Basis geben

Und in einem Interview mit Alice Schwarzer erklärt sie 1972 erstmals öffentlich »ich bin Feministin«.