Oberlehrermentalität? GASTKOMMENTAR VON MARIAN HEITGER (Die Presse) 19.09.2002

 

Eine sprachliche Attacke gegen die Bildung? Politiker sollten ihre Wortwahl überlegen.

 

Der Autor ist emeritierter Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften.

In dieser Zeitung erschien am 28. 8. 2002 eine kleine Notiz; unauffällig und offensichtlich nicht besonders interessant. Bei einem Treffen hatten der sozialdemokratische Nationalratspräsident Heinz Fischer und der sozialistische Vorsitzende des tschechischen Unterhauses in "schöner" Übereinstimmung die "Oberlehrermentalität" in bezug auf die Diskussion der heiklen Fragen der Benes-Dekrete und in bezug auf Temelín gerügt.

Hier muß der an Bildungs- und Schulfragen interessierte Zeitgenosse zumindest hellhörig werden. Denn offenbar werden Kleinkariertheit des Denkens, Besserwisserei und moralisierendes Gehaben in der Behandlung jener Fragen kritisiert; und offensichtlich werden jene Attribute besonders dem Lehrer und in gesteigerter Form dem Oberlehrer zugedacht. Hier beginnt das Ärgernis an jener Formulierung. Mit ihm wird ein ganzer Berufsstand verallgemeinernd diskriminiert. Man weiß, wie man mit derartigen Überlegenheitsgesten in der Sprache die Stammtischmentalität ansprechen kann und damit einer bestimmten Profession eine nicht gerade schätzenswerte Eigenschaft zugeschrieben wird. Mancher Leser könnte einwenden, das sei doch alles nicht so gemeint, das Wort von der Oberlehrermentalität sei doch nur metaphorisch gebraucht und schon in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen.

Da kann man nur sagen, um so schlimmer. Man weiß aus der Geschichte, wie schnell aus Worten Taten folgen. Man weiß um die Macht der Worte, um so mehr, wenn sie von hohen politischen Machtträgern gebraucht werden. Wer die Sprache besetzt, besetzt das Denken und schließlich auch das Handeln.

Die Folgen jener vorurteilshaften Verallgemeinerung sind nicht unbekannt. Die Autorität des Lehrers ist vielfach untergraben; kürzlich forderte das Ministerium die Schulen auf, verbindliche Verhaltensregeln für den Unterricht zu formulieren.

Die Profession des Lehrens mit einer diskriminierenden Rede von Oberlehrermentalität herabzusetzen, wirkt um so peinlicher, je mehr die selben Politiker keine Gelegenheit auslassen, die Wichtigkeit und Bedeutung von Bildung und Ausbildung für unser Land zu betonen. Daraus könnte man folgern, daß es mit Bildung und Ausbildung ihnen in Wirklichkeit doch nicht so ernst ist. Wenn man das nicht unterstellen will, dann bleibt nur eine Konsequenz: Die Gedankenlosigkeit, bzw. daß man zur Lösung der Fragen bei jener Zusammenkunft keine Argumente mehr hatte und deshalb auf Allgemeinplätze ausweicht. Aber auch das wäre schlimm genug: Denn schließlich geht es bei der Behandlung der Benes-Dekrete um Fragen der Menschenrechte, um für die EU verbindliche Grundwerte. Wer deren Diskussion als Ausdruck von "Oberlehrermentalität" abtut, der diskriminiert nicht nur den Beruf des Lehrers, der unterläuft auch alle Bemühungen der politischen Bildung. Denn diese können zusammengefaßt werden in der einen Absicht, junge Menschen dahin zu führen, die Würde unter allen Umständen, allen Gegebenheiten und in allen Formen zu achten.

Man könnte versucht sein, die vorgelegten kritischen Einwände selbst als "Oberlehrermentalität" abzutun. Wer das versucht, der verkennt den subtilen Zusammenhang von Sprechen, Denken und Tun; wie behutsam und vorsichtig wir heute mit Sprache umzugehen haben, damit nicht wieder Bedeutungsinhalte transportiert werden, die unser Wertsystem zerstören, auch wenn die Verlockung, sich dem Zeitgeist anzuschließen, groß ist.