Moritz Schlick
Die Wende der Philosophie
Von Zeit zu Zeit hat man Preisaufgaben über die Frage gestellt, welche
Fortschritte die Philosophie in einem bestimmten Zeitraume gemacht habe. Der
Zeitabschnitt pflegte auf der einen Seite durch den Namen eines großen Denkers,
auf der andern durch die "Gegenwart" abgegrenzt zu werden. Man schien
also vorauszusetzen, dass über die philosophischen Fortschritte der Menschheit
bis zu jenem Denker hin einigermaßen Klarheit herrsche, dass es aber von da ab
zweifelhaft sei, welche neuen Errungenschaften die letzte Zeit hinzugefügt
habe.
Aus solchen Fragen spricht deutlich ein Misstrauen gegen die Philosophie der
jeweils jüngst vergangenen Zeit, und man hat den Eindruck, als sei die
gestellte Aufgabe nur eine verschmähte Formulierung der Frage: Hat denn die
Philosophie in jenem Zeitraum überhaupt welche Fortschritte gemacht? Denn wenn
man sicher wäre, dass Errungenschaften da sind, so wüsste man wohl auch, worin
die bestehen.
Wenn die ältere Vergangenheit mit geringerer Zweifelsucht betrachtet wird und
wenn man eher geneigt ist, in ihrer Philosophie eine aufsteigende Entwicklung
anzuerkennen, so dürfte dies seinen Grund darin haben, dass man allem, was
schon historisch geworden ist, mit größerer Ehrfurcht gegenübersteht; es kommt
hinzu, dass die älteren Philosopheme wenigstens ihre historische Wirksamkeit
bewiesen haben, dass man daher bei ihrer Betrachtung ihre historische Bedeutung
anstelle der sachlichen zugrunde legen kann, und dies um so eher, als man oft
zwischen beiden gar nicht zu unterscheiden wagt.
Aber gerade die besten Köpfe unter den Denkern glaubten selten an
unerschütterliche, bleibende Ergebnisse des Philosophierens früherer Zeiten und
selbst klassischer Vorbilder; dies erhellt daraus, dass im Grunde jedes neue
System wieder ganz von vorn beginnt, dass jeder Denker seinen eigenen festen
Boden sucht und sich nicht auf die Schultern seiner Vorgänger stellen mag. DESCARTES fühlt sich (nicht ohne Recht) durchaus als
einen Anfang; SPINOZA
glaubt mit der (freilich recht äußerlichen) Einführung mathematischer Form die
endgültige philosophische Methode gefunden zu
haben; und KANT
war davon überzeugt, dass auf dem von ihm eingeschlagenen Wege die Philosophie
nun endlich den sichern Gang einer Wissenschaft nehmen würde. Weitere Beispiele
sind billig, denn fast alle großen Denker haben eine radikale Reform der
Philosophie für notwendig gehalten und selbst versucht.
Dieses eigentümliche Schicksal der Philosophie wurde so oft geschildert und
beklagt, dass es schon trivial ist, davon überhaupt zu reden, und dass schweigende
Skepsis und Resignation die einzige der Lage angemessene Haltung zu sein
scheint. Alle Versuche, dem Chaos der System ein Ende zumachen und das
Schicksal der Philosophie zu wenden, können, so scheint eine Erfahrung von mehr
als zwei Jahrtausenden zu lehren, nicht mehr ernst genommen werden. Der Hinweis
darauf, dass der Mensch schließlich die hartnäckigsten Probleme, etwa das des DÄDALUS, gelöst habe, gibt dem Kenner keinen Trost,
denn was er fürchtet, ist gerade, dass die Philosophie es nie zu einem echten
"Problem" bringen werde.
Ich gestatte mir diesen Hinweis die so oft geschilderte Anarchie der philosophischen Meinungen, um keinen Zweifel darüber zu
lassen, dass ich ein volles Bewusstsein von der Tragweite und Inhaltsschwere
der Überzeugung habe, die ich nun aussprechen möchte. Ich bin nämlich
überzeugt, dass wir in einer durchaus endgültigen Wendung der Philosophie
mitten darin stehen und dass wir sachlich berechtigt sind, den unfruchtbaren
Streit der Systeme als beendigt anzusehen. Die Gegenwart ist, so behaupte ich,
bereits im Besitz der Mittel, die jeden derartigen Streit im Prinzip unnötig
machen; es kommt nur darauf an, sie entschlossen anzuwenden.
Diese Mittel sind in aller Stille, unbemerkt von der Mehrzahl der
philosophischen Lehrer und Schriftsteller, geschaffen worden, und so hat sich eine
Lage gebildet, die mit allen früheren unvergleichbar ist. Dass die Lage
wirklich endgültig ist, kann nur eingesehen werden, indem man sich mit den
neuen Wegen bekannt macht und von dem Standpunkte, zu dem sie führen, auf alle
die Bestrebungen zurückschaut, die je als "philosophische" gegolten
haben.
Die Wege gehen von der Logik aus. Ihren
Anfang hat LEIBNIZ
undeutlich gesehen, wichtige Strecken haben in den letzten Jahrzehnten GOTTLOB FREGE und BERTRAND RUSSELL
erschlossen, bi zu der entscheidenden Wendung aber ist zuerst LUDWIG
WITTGENSTEIN (im "Tractatus logico-philosophicus",
1922) vorgedrungen.
Bekanntlich haben die Mathematiker in den letzten Jahrzehnten neue logische
Methoden entwickelt, zunächst zur Lösung ihrer eigenen Probleme, die sich mit
Hilfe der überlieferten Formen der Logik auch sonst ihre Überlegenheit über die
alten Formen längst bewiesen
und wird diese zweifellos bald ganz verdrängt haben. Ist nun diese Logik das
große Mittel, von dem ich vorhin sagte, es sei imstande, uns im Prinzip aller
philosophischen Streitigkeiten zu entheben, liefert sie uns etwa allgemeine
Vorschriften, mit deren Hilfe alle traditionellen Fragen der Philosophie
wenigsten prinzipiell aufgelöst werden können?
Wäre dies der Fall, so hätte ich kaum das Recht gehabt zu sagen, dass eine
völlig neue Lage geschaffen sei, denn es würde dann nur ein gradueller,
gleichsam technischer Fortschritt erzählt sein, sowie etwa die Erfindung des
Benzinmotors schließlich die Lösung des Flugproblems ermöglichte. So hoch aber
auch der Wert der neuen Methode zu schätzen ist: durch die bloße Ausbildung
einer Methode kann niemals etwas so Prinzipielles geleistet werden. Nicht ihr
selbst ist daher die große Wendung zu danken, sondern etwas ganz anderem, das
durch sie wohl erst möglich gemacht und angeregt wurde, aber in einer viel tieferen
Schicht sich abspielt: das ist die Einsicht in das Wesen des Logischen selber.
Dass das Logische in
irgendeinem Sinne das rein Formale ist, hat man früh und oft
ausgesprochen; dennoch war man sich über das Wesen der reinen Formen nicht
wirklich klar gewesen. Der Weg zur Klarheit darüber geht von der Tatsache aus,
dass jede Erkenntnis ein Ausdruck, eine Darstellung ist. Sie drückt nämlich den
Tatbestand aus, der in ihr erkannt wird, und dies kann auf beliebig viele
Weisen, in beliebigen Sprachen, durch beliebige willkürliche Zeichensysteme
geschehen; alle diese möglichen Darstellungsarten, wenn anders sie wirklich
dieselbe Erkenntnis ausdrücken, müssen eben deswegen etwas gemeinsam haben, und
dies Gemeinsame ist ihre logische Form.
So ist alle Erkenntnis nur vermöge ihrer Form Erkenntnis; durch sie stellt sie
die erkannten Sachverhalte dar, die Form selbst aber kann ihrerseits nicht
wieder dargestellt werden; auf sie allein kommt es bei der Erkenntnis an, alles
übrige daran ist unwesentlich und zufälliges Material des Ausdrucks, nicht
anders als etwa die Tinte, mit der wir einen Satz niederschreiben.
Diese schlichte Einsicht hat Folgen von der allergrößten Tragweite. Durch sie
werden zunächst die traditionellen Probleme der "Erkenntnistheorie"
abgetan. An die Stelle von Untersuchungen des menschlichen
"Erkenntnisvermögens" tritt, soweit sie nicht der Psychologie
überantwortet werden können, die Besinnung über das Wesen des Ausdrucks, der
Darstellung, d.h. jeder möglichen "Sprache" im
allgemeinen Sinn des Worts. Die Fragen nach der "Geltung und den Grenzen
der Erkenntnis" fallen fort. Erkennbar ist alles, was sich ausdrücken
lässt, und das ist alles, wonach man sinnvoll fragen kann.
Es gibt daher keine prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, keine prinzipiell
unlösbaren Probleme. Was man bisher dafür gehalten hat, sind keine echten Fragen, sondern
sinnlose Aneinanderreihungen von Worten, die zwar äußerlich wie Fragen
aussehen, da sie den gewohnten Regeln der Grammatik zu genügen scheinen, in
Wahrheit aber aus leeren Lauten bestehen, weil sie gegen die tiefen inneren
Regeln der logischen Syntax verstoßen, welche die neue Analyse aufgedeckt hat.
Wo immer ein sinnvolles Problem vorliegt, kann man theoretisch stets auch den
Weg angeben, der zu seiner Auflösung führt, denn es zeigt sich, dass die Angabe
dieses Wegen im Grund mit der Aufzeigung des Sinnes zusammenfällt; die
praktische Beschreitung des Weges kann natürlich dabei durch tatsächliche
Umstände, z.B. mangelhafte menschliche Fähigkeiten, verhindert sein. Der Akt
der Verifikation, bei dem der Weg der Lösung schließlich endet, ist immer von
derselben Art: es ist das Auftreten eines bestimmten Sachverhaltes, das durch
Beobachtung, durch unmittelbares Erlebnis
konstatiert wird.
Auf diese Weise wird in der Tat im Alltag wie in jeder Wissenschaft die Wahrheit (oder Falschheit)
jeder Aussage festgestellt. Es gibt also keine andere Prüfung und Bestätigung
von Wahrheiten als die
durch Beobachtung und Erfahrungswissenschaft.
Jede Wissenschaft (sofern wir bei diesem Worte an den Inhalt und nicht
an die menschlichen Veranstaltungen zu seiner Gewinnung denken) ist ein System von Erkenntnissen, d.h. von wahren
Erfahrungssätzen; und die Gesamtheit der Wissenschaften, mit Einschluss der
Aussagen des täglichen Lebens, ist das System der Erkenntnisse; es gibt
nicht außerhalb seiner noch ein Gebiet "philosophischer" Wahrheiten,
die Philosophie ist nicht ein System von Sätzen, sie ist keine Wissenschaft.
Was ist sie aber dann? Nun, zwar keine Wissenschaft, aber doch etwas so
Bedeutsames und Großes, dass sie auch fürder, wie einst, als die Königin der
Wissenschaften verehrt werden darf; denn es steht ja nirgends geschrieben, dass
die Königin der Wissenschaften selbst auch eine Wissenschaft sein müsste. Wir
erkennen jetzt in ihr - und damit ist die große Wendung in der Gegenwart
positiv gekennzeichnet - anstatt eines Systems von Erkenntnissen ein System von
Akten; sie ist nämlich diejenige Tätigkeit, durch welche der Sinn der Aussagen festgestellt oder
aufgedeckt wird.
Durch die Philosophie werden Sätze geklärt, durch die Wissenschaften
verifiziert. Bei diesen handelt es sich um die Wahrheit von Aussagen, bei jener
aber darum, was die Aussagen eigentlich meinen. Inhalt, Seele und Geist
der Wissenschaft stecken natürlich in dem , was mit ihren Sätzen letzten Endes gemeint
ist; die philosophische Tätigkeit der Sinngebung ist daher das Alpha und Omega
aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Dies hat man wohl richtig geahnt, wenn man
sagte, die Philosophie liefere sowohl die Grundlage wie den Abschluss des
Gebäudes der Wissenschaften; irrig war nur die Meinung, dass das Fundament von
"philosophischen Sätzen" gebildet werde (den Sätzen der
Erkenntnistheorie), und dass der Bau auch von einer Kuppel philosophischer
Sätze (genannt Metaphysik) gekrönt werde.
Dass die Arbeit der Philosophie nicht in der Aufstellung von Sätzen besteht,
dass also die Sinngebung von Aussagen nicht wiederum durch Aussagen geschehen
kann, ist leicht einzusehen. Denn wenn ich etwa die Bedeutung meiner Worte
durch Erläuterungssätze und Definitionen angebe,
also mit Hilfe neuer Worte, so muss man weiter nach der Bedeutung dieser
anderen Worte fragen, und so fort. Dieser Prozess kann nicht ins unendliche
gehen, er findet sein Ende immer nur in tatsächlichen Aufweisungen, in
Vorzeigungen des Gemeinten, in wirklichen Akten also; nur diese sind keiner weiteren
Erläuterung fähig und bedürftig; die letzte Sinngebung geschieht mithin stets
durch Handlungen, sie machen die philosophische Tätigkeit aus.
Es war einer der schwersten Irrtümer vergangener Zeiten, dass man glaubte, den
eigentlichen Sinn und letzten Inhalt wiederum durch Aussagen zu formulieren,
also in Erkenntnissen darstellen zu können: es war der Irrtum der
"Metaphysik". Das Streben der Metaphysiker war von jeher auf das
widersinnige Ziel gerichtet, den Inhalt reiner Qualitäten (das "Wesen der Dinge")
durch Erkenntnisse auszudrücken, also das Unsagbare zu sagen; Qualitäten lassen sich
nicht sagen, sondern nur im Erlebnis aufzeigen, Erkenntnis aber hat damit
nichts zu schaffen.
So fällt die Metaphysik dahin, nicht weil die Lösung ihrer Aufgabe ein
Unterfangen wäre, dem die menschliche Vernunft nicht gewachsen ist (wie etwa KANT meinte), sondern weil es diese Aufgabe gar
nicht gibt. Mit der Aufdeckung der falschen Fragestellung wird aber zugleich
die Geschichte des metaphysischen Streites verständlich.
Überhaupt muss unsere Auffassung, wenn sie richtig ist, sich auch historisch
legitimieren. Es muss sich zeigen, dass sie imstande ist, von dem
Bedeutungswandel des Wortes Philosophie einigermaßen Rechenschaft zu geben.
Dies ist nun wirklich der Fall. Wenn im Altertum, und eigentlich bis in die
neuere Zeit hinein, Philosophie einfach identisch war mit jedweder rein
theoretischen wissenschaftlichen Forschung, so deutet das darauf hin, dass die
Wissenschaft sich eben in einem Stadium befand, in welchem sie ihre
Hauptaufgabe noch in der Klärung der eigenen Grundbegriffe sehen musste; und
die Emanzipation der Einzelwissenschaften von ihrer gemeinsamen Mutter
Philosophie ist der Ausdruck davon, dass der Sinn gewisser Grundbegriffe klar
genug geworden war, um mit ihnen erfolgreich weiter arbeiten zu können.
Wenn ferner auch gegenwärtig noch z.B. Ethik und Ästhetik, ja manchmal sogar
Psychologie als Zweige der Philosophie gelten, so zeigen diese Disziplinen
damit, dass sie noch nicht über ausreichend klare Grundbegriffe verfügen, dass
vielmehr ihre Bemühungen noch hauptsächlich auf den Sinn ihrer Sätze
gerichtet sind. Und endlich: wenn sich mitten in der fest konsolidierten
Wissenschaft plötzlich an irgendeinem Punkte die Notwendigkeit herausstellt,
sich auf die wahre Bedeutung der fundamentalen Begriffe von neuem zu besinnen,
und dadurch eine tiefere Klärung des Sinnes herbeigeführt wird, so wird diese
Leistung sofort als eine eminent philosophische gefühlt; alle sind darüber
einig, dass z.B. die Tat EINSTEINs, die von einer Analyse des Sinnes der Aussagen
über Zeit und Raum ausging,
eben wirklich eine philosophische Tat war. Hier dürfen wir noch hinzufügen,
dass die ganz entscheidenden epochemachenden Fortschritte der Wissenschaft immer
von dieser Art sind, dass sie eine Klärung des Sinnes der fundamentalen Sätze
bedeuten und daher nur solchen gelingen, die zur philosophischen Tätigkeit
begabt sind; das heißt: der große Forscher ist immer auch Philosoph.
Dass häufig auch solche Geistestätigkeiten den Namen Philosophie tragen, die
nicht auf reine Erkenntnis, sondern auf Lebensführung abzielen, erscheint gleichfalls
leicht begreiflich, denn der Weise heb sich von der unverständigen Menge eben
dadurch ab, dass er den Sinn der Aussagen und Fragen über Lebensverhältnisse,
über Tatsachen und Wünsche klarer aufzuzeigen weiß als jene.
Die große Wendung der Philosophie bedeutet auch eine endgültige Abwendung von
gewissen Irrwegen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
eingeschlagen wurden und zu einer ganz verkehrten Einschätzung und
Wertschätzung der Philosophie führen mussten: ich meine die Versuche, ihr einen
induktiven Charakter zu vindizieren und daher zu glauben, dass sie aus lauter
Sätzen von hypothetischer Geltung bestehe. Der Gedanke, für ihre Sätze nur
Wahrscheinlichkeit in Anspruch zu nehmen, lag früheren Denkern fern; sie hätten
ihn als mit der Würde der Philosophie unverträglich abgelehnt. Darin äußerte
sich ein gesunder Instinkt dafür, dass die Philosophie den allerletzten Halt
des Wissens abzugeben hat.
Nun müssen wir freilich in ihrem entgegengesetzten Dogma, die Philosophie biete unbedingt wahre
apriorische Grundsätze dar, eine höchst unglückliche Äußerung dieses Instinkts
erblicken, zumal sie ja überhaupt nicht aus Sätzen besteht; aber auch wir
glauben an die Würde der Philosophie und halten den Charakter des Unsicheren
und bloß Wahrscheinlichen für unvereinbar mit ihr, und freuen uns, dass die
große Wendung es unmöglich macht, ihr einen derartigen Charakter zuzuschreiben.
Denn auf die sinngebenden Akte, welche die Philosophie ausmachen, ist der
Begriff der Wahrscheinlichkeit oder Unsicherhit gar nicht anwendbar. Es handelt
sich ja um Setzungen, die allen Aussagen gemeint ist; oder wir haben ihn nicht,
dann stehen nur bedeutungsleere Worte vor uns und noch gar keine Aussagen; es
gibt kein drittes, und von Wahrscheinlichkeit der Geltung kann keine Rede sein.
So zeigt nach der großen Wendung die Philosophie ihren Charakter der
Endgültigkeit deutlicher als zuvor.
Nur vermöge dieses Charakters kann ja auch der Streit der Systeme beendet
werden. Ich wiederhole, dass wir ihn infolge der angedeuteten Einsichten bereits
heute als im Prinzip beendet ansehen dürfen, und ich hoffe, dass dies auch auf
den Seiten dieser Zeitschrift in ihrem neuen Lebensabschnitt immer deutlicher
sichtbar werden möge.
Gewiss es wird noch manches Nachhutgefecht geben, gewiss werden noch jahrhundertelang
Viele in den gewohnten Bahnen weiterwandeln; philosophische Schriftsteller
werden noch lange alte Scheinfragen diskutieren, aber schließlich wird man
ihnen nicht mehr zuhören und sie werden Schauspielern gleichen, die noch eine
Zeitlang fortspielen, bevor sie bemerken, dass die Zuschauer sich allmählich
fortgeschlichen haben. Dann wird es nicht mehr nötig sein, über
"philosophische Fragen" zu sprechen, weil man über alle Fragen
philosophisch sprechen wird, das heißt: sinnvoll und klar.
Literatur: Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg.), Erkenntnis, Band I, Leipzig 1930-31, zugleich "Annalen der Philosophie", Bd. 9