Franz Schlegel
  Gedanken alter Meister
  

RABINDRANATH TAGORE

[31] „Sag mir, Gefangner, wer hat dich gebunden?« »Es war mein Meister,« sprach der Gefangne, »ich glaubte jeden in der Welt mit Macht und Reichtum auszustechen. Ich häufte im eignen Schatzhaus das Geld, das meinem König gehört. Als mich Schlaf übermannt’, ruhte ich aus auf dem Bett, das für meinen Herrn bereitet, erwachend fand ich mich als Gefangner im eigenen Schatzhaus.« »Sag mir, Gefangner, wer wars, der diese unbrechbaren Ketten geschmiedet?« »Ich war es,« sprach der Gefangne, »der diese Ketten mit Sorgfalt geschmiedet. Ich glaubte mit unbesiegbarer Macht, die Welt zu fesseln, um Freiheit nur mir ungestört zu erhalten. So wirkte ich Tag und Nacht an der Kette mit großen Feuern und grausamen, harten Schlägen. Und als das Werk getan, vollendet die Glieder und unzerbrechbar, — da fand ich mich selbst in ihrem Griff.“ (Gitanjali [31])

[12] „Die Zeit, die meine Reise braucht, ist lang, und der Weg ist lang. Ich kam heraus auf dem Wagen im ersten Strahle des Lichts und setzte die Fahrt weiter fort durch die Wildnis der Welten und ließ meine Spur auf manchem Stern und Planeten. Es ist der fernste Weg, der am nächsten führt zu dir selbst, und jene Übung ist die schwierigste, die zum allereinfachsten Ton kommt. An jede fernste Türe muß der Wanderer klopfen, bis er zur eigenen gelangt, durch alle äußeren Welten muß man ziehn, zuletzt zum Allerheiligsten zu kommen. Und meine Augen streiften weit und breit, eh ich sie schloß und sprach: »Hier bist du!« Die Frage und der Ruf: »O wo?« zerschmilzt in tausend Tränenströmen und ertränkt die Welt mit der Flut der Versichrung »Ich bin!«“ (Gitanjali [12])

 

Rabindranath Tagore* (1861–1941)

Link: Gitanjali Online