Ludwig
Wittgenstein
(1889-1951)
Tractatus logico-philosophicus
4 |
Der Gedanke
ist der sinnvolle Satz. |
4.001 |
Die Gesamtheit
der Sätze ist die Sprache. |
4.002 |
Der Mensch
besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn
ausdrücken läßt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was
jedes Wort bedeutet. - Wie man auch spricht, ohne zu wissen, wie die
einzelnen Laute hervorgebracht werden. |
4.003 |
Die meisten
Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben
worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher
Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre
Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen
beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. |
4.0031 |
Alle
Philosophie ist "Sprachkritik". RUSSELLs Verdienst ist es, gezeigt zu haben,
daß die scheinbar logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein
muß. |
4.01 |
Der Satz ist
ein Bild der Wirklichkeit. |
4.011 |
Auf den ersten
Blick scheint der Satz - wie er etwa auf dem Papier gedruckt steht - kein
Bild der Wirklichkeit zu sein, von der er handelt. Aber auch die Notenschrift
scheint auf den ersten Blick kein Bild der Musik zu sein, und unsere
Lautzeichen- (Buchstaben-) Schrift kein Bild unserer Lautsprache. Und doch
erweisen sich diese Zeichensprachen auch im gewöhnlichen Sinne als
Bilder dessen, was sie darstellen. |
4.012 |
Offenbar ist,
daß wir einen Satz von der Form "aRb" als Bild empfinden.
Hier ist das Zeichen offenbar ein Gleichnis des Bezeichneten. |
4.013 |
Und wenn wir
in das Wesentliche dieser Bildhaftigkeit eindringen, so sehen wir, daß
dieselbe durch 'scheinbare Unregelmäßigkeiten' (wie die Verwendung
der # und b in der Notenschrift) 'nicht' gestört wird. |
4.014 |
Die
Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die
Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zueinander,
die zwischen Sprache und Welt besteht. |
4.0141 |
Daß es
eine allgemeine Regel gibt, durch die der Musiker aus der Partitur die
Symphonie entnehmen kann, durch welche man aus der Linie auf der
Grammophonplatte die Symphonie und nach der ersten Regel wieder die Partitur
ableiten kann, darin besteht eben die innere Ähnlichkeit dieser
scheinbar so ganz verschiedenen Gebilde. Und jene Regel ist das Gesetz der
Projektion, welches die Symphonie in die Notensprache projiziert. Sie ist die
Regel der Übersetzung der Notensprache in die Sprache der
Grammophonplatte. |
4.015 |
Die
Möglichkeit aller Gleichnisse, der ganzen Bildhaftigkeit unserer
Ausdrucksweise, ruht in der Logik der Abbildung. |
4.016 |
Um das Wesen
des Satzes zu verstehen, denken wir an die Hieroglyphenschrift, welche die
Tatsachen die sie beschreibt abbildet. |
4.02 |
Der Satz ist
ein Bild der Wirklichkeit: Denn ich kenne die von ihm dargestellte Sachlage,
wenn ich den Satz verstehe. Und den Satz verstehe ich, ohne daß mir
sein Sinn erklärt wurde. |
4.021 |
Der Satz
'zeigt' seinen Sinn. |
4.022 |
Die
Wirklichkeit muß durch den Satz auf ja oder nein fixiert sein. |
4.023 |
Die
Wirklichkeit muß durch den Satz auf ja oder nein fixiert sein. |
4.024 |
Einen Satz
verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. |
4.025 |
Die
Übersetzung einer Sprache in eine andere geht nicht so vor sich,
daß man jeden 'Satz' der einen in einen 'Satz' der anderen
übersetzt, sondern nur die Satzbestandteile werden übersetzt. |
4.026 |
Die
Bedeutungen der einfachen Zeichen (der Wörter) müssen erklärt
werden, daß wir sie verstehen. |
4.027 |
Es liegt im
Wesen des Satzes, daß er uns einen 'neuen' Sinn mitteilen kann. |
4.03 |
Ein Satz
muß mit alten Ausdrücken einen neuen Sinn mitteilen. |
4.031 |
Im Satz wird
gleichsam eine Sachlage probeweise zusammengestellt. |
4.0311 |
Ein Name steht
für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und untereinander
sind sie verbunden, so stellt das Ganze - wie ein lebendes Bild - den
Sachverhalt vor. |
4.0312 |
Die
Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von
Gegenständen durch Zeichen. |
4.064 |
Jeder Satz
muß 'schon' einen Sinn haben; die Bejahung kann ihn ihm nicht geben,
denn sie bejaht ja gerade den Sinn. Und dasselbe gilt von der Verneinung,
etc. |
4.0641 |
Man
könnte sagen: Die Verneinung bezieht sich schon auf den logischen Ort,
den der verneinte Satz bestimmt. Der verneinende Satz bestimmt einen
'anderen' logischen Ort als der verneinte. |
4.1 |
Der Satz
stellt das Bestehen und Nichtbestehen der Sachverhalte dar. |
4.11 |
Die Gesamtheit
der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit
der Naturwissenschaften): |
4.111 |
Die
Philosophie ist keine der Naturwissenschaften.
|
4.112 |
Der Zweck der
Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches
Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen. |
4.1121 |
Die
Psychologie ist der Philosophie nicht verwandter als irgendeine andere
Naturwissenschaft. |
4.1122 |
Die DARWINsche Theorie hat mit der Philosophie
nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft. |
4.113 |
Die
Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft. |
4.114 |
Sie soll das
Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. Sie soll das Undenkbare von
innen durch das Denkbare begrenzen. |
4.115 |
Sie wird das
Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt. |
4.116 |
Alles was
überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich
aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen. |
4.12 |
Der Satz kann
die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was
er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu
können - die logische Form. |
4.121 |
Der Satz kann
die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. |
4.1211 |
So zeigt ein
Satz "fa", daß in seinem Sinn der Gegenstand "a"
vorkommt, zwei Sätze "fa" und "ga", daß in
ihnen beiden von demselben Gegenstand die Rede ist. |
4.1212 |
Was gezeigt
werden 'kann, kann' nicht gesagt werden. |
4.1213 |
Jetzt
verstehen wir auch unser Gefühl: daß wir im Besitze einer
richtigen logischen Auffassung seien, wenn nur einmal alles in unserer
Zeichensprache stimmt. |
5.6 |
'Die Grenzen
meiner Sprache' bedeuten die Grenzen meiner Welt. |
5.61 |
Die Logik
erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen. |
5.62 |
Diese
Bemerkung gibt den Schlüssel zur Entscheidung der Frage, inwieweit der
Solipsismus eine Wahrheit ist. |
5.621 |
Die Welt und
das Leben sind Eins. |
5.63 |
Ich bin mene
Welt. (Der Mikrokosmos.) |
5.631 |
Das denkende,
vorstellende, Subjekt gibt es nicht. |
5.632 |
Das Subjekt
gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt. |
5.633 |
Wo in der Welt
ist ein metaphysisches Subjekt zu merken? |
5.6331 |
Das
Gesichtsfeld hat nämlich nicht etwa eine solche Form: Auge - |
5.634 |
Das hängt
damit zusammen, daß kein Teil unserer Erfahrung auch a priori ist. |
5.64 |
Hier sieht
man, daß der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen
Realismus zusammenfällt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum
ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte
Realität. |
5.641 |
Es gibt also
wirklich einen Sinn, in welchem in der Philosophie nicht-psychologisch vom
Ich die Rede sein kann. |
6.362 |
Was sich
beschreiben läßt, das kann auch geschehen, und was das
Kausalitätsgesetz ausschließen soll, das läßt sich auch
nicht beschreiben. |
6.363 |
Der Vorgang
der Induktion besteht darin, daß wir das 'einfachste' Gesetz annehmen,
das mit unseren Erfahrungen in Einklang zu bringen ist. |
6.3631 |
Dieser Vorgang
hat aber keine logische, sondern nur ein psychologische Begründung. |
6.36311 |
Daß die
Sonne aufgehen wird, ist eine Hypothese; und das heißt: wir 'wissen'
nicht, ob sie aufgehen wird. |
6.37 |
Einen Zwang,
nach dem Eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist,
gibt es nicht. Es gibt nur eine 'logische' Notwendigkeit. |
6.371 |
Der ganzen
modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die
sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. |
6.372 |
So bleiben sie
bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen, wie die
älteren bei Gott und dem Schicksal. |
6.373 |
Die Welt ist
unabhängig von meinem Willen. |
6.374 |
Auch wenn
alles, was wir wünschen, geschähe, so wäre dies doch nur,
sozusagen, eine Gnade des Schicksals, denn es ist kein 'logischer'
Zusammenhang zwischen Willen und Welt, der dies verbürgte, und den
angenommenen physikalischen Zusammenhang konnten wir doch nicht selbst wieder
wollen. |
6.375 |
Wie es nur eine
'logische' Notwendigkeit gibt, so gibt es auch nur eine 'logische'
Unmöglichkeit. |
6.3751 |
Daß z.B.
zwei Farben zugleich an einem Ort des Gesichtsfeldes sind, ist unmöglich
und zwar logisch unmöglich, denn es ist durch die logische Struktur der
Farbe ausgeschlossen. |
6.4 |
Alle
Sätze sind gleichwertig. |
6.41 |
Der Sinn der
Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist
und geschieht alles wie es geschieht; es gibt 'in' ihr keinen Wert - und wenn
es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. |
6.24 |
Es ist klar,
daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. |
6.422 |
Der erste
Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form "du
sollst ..." ist: Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar,
daß die Ethik nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu
tun hat. Also muß diese Frage nach den 'Folgen' einer Handlung
belanglos sein. - Zum Mindesten dürfen diese Folgen nicht Ereignisse
sein. Denn etwas muß doch an jener Fragestellung richtig sein. Es
muß zwar eine Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber
diese müssen in der Handlung selbst liegen. |
6.423 |
Vom Willen als
dem Träger des Ethischen kann nicht gesprochen werden. |
6.43 |
Wenn das gute
oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenze der
Welt ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache
ausgedrückt werden kann. |
6.431 |
Wie auch beim
Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört. |
6.4311 |
Der Tod ist
kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. |
6.4312 |
Die zeitliche
Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges
Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern
vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr
erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, daß
ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso
rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels
des Lebens in Raum und Zeit liegt 'außerhalb' von Raum und Zeit. |
6.432 |
'Wie' die Welt
ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott
offenbart sich 'in' der Welt. |
6.4321 |
Die Tatsachen
gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung. |
6.44 |
Nicht 'wie'
die Welt ist, ist das Mystische, sondern 'daß' sie ist. |
6.45 |
Die Anschauung
der Welt 'sub specie aeterni' ist ihre Anschauung als-begrenztes-Ganzes. Das
Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische. |
6.5 |
Zu einer
Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht
aussprechen. |
6.51 |
Skeptizismus
ist 'nicht' unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln
will, wo nicht gefragt werden kann. |
6.52 |
Wir
fühlen, daß selbst, wenn alle 'möglichen' wissenschaftlichen
Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt
sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die
Antwort. |
6.521 |
Die
Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses
Problems. |
6.522 |
Es gibt
allerding Unaussprechliches. Dies 'zeigt' sich, es ist das Mystische. |
6.53 |
Die richtige
Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was
sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft - also
etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein
anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er
gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese
Methode wäre für den anderen unbefriedigend - er hätte nicht
das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten - aber 'sie' wäre
die einzig streng richtige. |
6.54 |
Meine
Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht,
am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie
hinausgestiegen ist.) |
7 |
Wovon man
nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. |
Literatur: Ludwig Wittgenstein,
Tractatus logico-philosophicus / Logisch-philosophische Abhandlung,